Ausgabe

Berta und Amalie Zuckerkandl vorerst auf Hebräisch

Robert Schild

Die israelische Autorin Ora Ahimeir hat einen historischen Roman über ihre berühmte Verwandte geschrieben.

Inhalt

Der Name Berta Zuckerkandl ist österreichischen Lesern wohl hinreichend bekannt. Die Journalistin, Kunstkritikerin und Salonière des fin de siècle-Wiens wurde vor allem in dieser Metropole mit Ausstellungen und Vorträgen, aber auch im ganzen deutschsprachigen Raum vermittels Sachbücher über ihre Zeit, Biografien und Dissertationen weitgehend gewürdigt. Einen historischen Roman aber, über sie und ihre vielschichtigen Kreise in Österreich und Frankreich, über ihren familiären Ursprung und vor allem über ihre Schwägerin Amalie zu schreiben, blieb einer israelischen Autorin vorbehalten.

 

Ora Ahimeir, eine gebürtige Zuckerkandl, kann eine direkte Verwandtschaft mit Bertas Ehemann, dem renommierten Wiener Anatomieprofessor Emil Zuckerkandl nicht nachverfolgen – feststeht aber, dass sowohl ihr Vater als auch der Professor den gleichen Vorfahren entstammen, die im habsburgischen Ungarn eine Produktion von Rübenzucker unterhielten. Sie selbst wurde 1941 in Jerusalem geboren und hat mehrere, lokal viel beachtete Monografien über diese vielseitige Stadt verfasst – bis sie, als Siebzigjährige mit dem Roman Kallah (dt. Die Braut) über ihre Mutter mit bisher sechzehn Auflagen in Israel als Bestsellerautorin Beachtung fand. 2017 folgte ein historischer Roman über das Schicksal des armenischen Volks im Osmanischen Reich und Nahen Osten (Araratier), und vor zwei Jahren dann In Bertas Salon, der lokal auch guten Anklang fand, aber bisher nur ins Spanische übersetzt wurde. 

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Ora Ahimeir: In Bertas Salon. Tel Aviv: Am Oved Books 2022. In hebräischer Sprache, Taschenbuch, 288 Seiten. ISBN: 9789651329531.

 

Während unseres Gespräches in ihrer Wohnung in Tel Aviv erwähnt Ora Ahimeir mehrmals den Begriff „Golden ­Vienna“, mit dem sie vor allem die Präsenz von jüdischen Persönlichkeiten aus Literatur, Philosophie, Musik, Kunst und Wissenschaften unterstreicht, die wiederum zum überwiegenden Teil jüdische Industrielle, Kaufleute und Bankiers als Kenner, Bewunderer und Mäzene hatten. Gerade diese Symbiose faszinierte die Autorin bei ihrer Frage: Was machte Wien zu dieser kulturellen und medizinisch-wissenschaftlichen „Hauptstadt“ Europas – und was machte die junge Journalistin und Kunstkritikerin Berta zur Salonière Zuckerkandl? Kein Zweifel, dass gerade ihr gebürtiger Familienname sie zu dieser Recherche anspornte und somit diesen fact and fiction-Roman zutage brachte.

 

Bittere Fakten waren schliesslich der sogenannte Anschluss durch die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich und die nachfolgende Plünderung all dieser Salons, Galerien und Bibliotheken – ganz zu schweigen von der Vernichtung der jüdischen Träger dieses enormen Kulturguts. So beginnt auch der Roman am Vorabend der Barbarei, quasi mit den letzten Treffen im Salon Zuckerkandl – wonach Berta fast instinktiv vorausblickend aus Wien spurlos verschwindet, um dann in Paris aufzutauchen, von wo sie anschliessend Richtung Südfrankreich und letztlich nach Algier flüchten muss. Vorbei sind die Zeiten, als Berta von der Mode in Paris schwärmte und in ihren Artikeln „den schlechten Geschmack der Wiener Frauen“ verbessern wollte – vorbei die Tage, an denen sie durch ein Interview mit Gustav Klimt diesem noch jungen Maler zur Anerkennung in Wiener Kunstkreisen verhalf und gleichzeitig den Grundstein der Secession zu legen beitrug – und vorbei ihre legendären matinées, an denen Gustav Mahler und Alma Schindler einander kennen und lieben lernten.

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Amalie Zuckerkandl geb. Schlesinger, portraitiert von Gustav Klimt. Foto: Ora Ahimeir, mit freundlicher Genehmigung.

 

Teilweise Fiktion, obwohl doch grösstenteils recherchiert, ist das Leben Amalie Schlesingers, die zwanzig Jahre
mit Bertas Schwager,
dem Urologen Dr. Otto Zucker­kandl verheiratet war. Sie wurde katholisch geboren und konvertierte anlässlich ihrer Heirat; die Ehe dauerte aber nur bis 1919. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Amalie und ihre Tochter von den Nazis aufgrund der Nürnberger Rassengesetze verhaftet und nach Belzec deportiert, wo beide ermordet wurden. 

 

Auf Bestellung ihres Ehemanns Otto hatte Amalie sich 1914 von Gustav Klimt malen lassen; das Porträt blieb jedoch unvollendet. Heute ist es neben anderen Werken Klimts in der Österreichischen Galerie im Schloss Belvedere zu besichtigen und zeigt für Klimt-Kenner, dass der Künstler seine Porträts vom Kopf „nach unten zu“ vervollständigte.

 

In Berta Salon lässt sich auch als Roman zweier Frauen lesen. Die eine war sehr bekannt: als Tochter eines angesehenen Journalisten und Freundes des Kronprinzen Rudolf; als gut verheiratete, charismatische Persönlichkeit, die im Umgang mit Sigmund Freud, Stefan Zweig, Gustav Mahler und Oskar Kokoschka Kultur schaffen und über Paul Clemenceau, den Bruder des französischen Präsidenten, auch eine Brücke in dessen Land schlagen konnte. Die andere war geschieden, verarmt und wurde schliesslich ermordet. Über Berta liegen zweifellos hunderte von Zeitungsnachrichten, Studien und Biografien vor – nicht zuletzt die Erinnerungen und Tagebücher ihres Enkelsohnes Emile, aus denen Ora Ahimeir umfassend schöpfen konnte (Einzelheiten zu ­Amalies Leben liessen sich jedoch allenfalls als Brocken dieser Aufzeichnungen feststellen), sowie etwa aus den Tage­büchern Arthur Schnitzlers. Die Autorin erzählt, dass sie tagelang in Wiener Archiven, unter anderem in der Österreichischen Nationalbibliothek, forschen musste, um etwas über diese eher einfache Frau zu erfahren. Deshalb hat hier die schriftstellerische Fantasie teilweise mitgeholfen, bestehende Lücken in professioneller Weise auszufüllen.

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Ora Ahimeir. Foto: Tomer Appelbaum, mit freundlicher Genehmigung R. Schild.

 

Im Augenblick arbeitet Ahimeir an ihrem vierten Roman, diesmal über ihren Vater, der aus dem heimatlichen Galizien nach Frankfurt am Main gezogen war, um dort rabbinische Studien zu betreiben, die er aus bekannten Gründen 1933 abbrechen musste. Im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina eingetroffen, fand er eine Anstellung bei der lokalen Post, der er bis zu seiner Pensionierung als Direktor die Treue halten sollte. Seine Geschichte spiegelt wohl die Emigration aus dem ­Shtetl in die Grossstadt und dann die Flucht in „das Heilige Land“ wider, das er mithalf, in Oasen in der nahöst­lich-chaotischen Wildnis zu verwandeln.

 

Unser Wunsch bleibt, Ora Ahimeirs Romane, beginnend mit Bertas Salon, ehebaldigst auch auf Deutsch lesen zu können!