Linke Bewegungen in Österreich haben einen moralisch erschreckenden Tiefpunkt erreicht, den man bis zu den Terrorattacken der Hamas am 7. Oktober 2023 nicht auszuloten gewagt hätte.
Wie ist es möglich, dass vermeintliche Humanisten den Feuermord an Säuglingen oder Massenvergewaltigungen an Frauen relativieren und als Akte eines legitimen Widerstands moralisch rechtfertigen? Ein Aspekt einer linken Weltanschauung ist zum Vorschein getreten, der bisher vorwiegend implizit in ihr angelegt war: das Gedankenkorsett des Kolonialismus und des angeblichen Kolonialstaats Israel.
Ein Wiener Kaffeehausbesitzer, den ich als dezidiert Linken kennen und als Freund schätzen gelernt hatte, erklärte mir seine Solidarisierung mit der Hamas, als ich unmittelbar nach dem Pogrom für deren Bekämpfung plädierte, indem er Israel und die Hamas auf dasselbe moralische Niveau stellte: „Schau doch, was Ihr ihnen für Jahrzehnte angetan habt.“ Eine Gleichsetzung Israels mit der Hamas ist jedoch intellektuell unredlich und moralisch erschreckend: Die Hamas ist eine 1987 entstandene, politisch-administrativ sowie militärisch-terroristische Kaderorganisation mit Wurzeln in der ägyptischen Moslembruderschaft. Ihre Mitglieder haben sich in ihrer Gründungs-Charta dem Ziel verschrieben, alle Ungläubigen („Kufar“), darunter Juden, Christen und nicht sunnitisch-extremistische Muslime, auszulöschen. Israel, als demokratischer Staat und Gesellschaft, besteht hingegen aus sieben Millionen Menschen, darunter Kinder, Alte und Behinderte, Friedensaktivisten und Pazifisten, die sich allesamt nicht der Ausrottung ihrer Nachbarn konstitutiv gewidmet haben. Selbst in Bezug auf die radikalsten Staaten, wie Nord-Korea oder den Iran, ist eine Unterscheidung von staatlicher Organisation und bürgerlicher Gesellschaft zwingend zu treffen. Dementsprechend richten sich Vergeltungsmassnahmen Israels für die Attacken auf unschuldige Zivilisten vom 7. Oktober 2023 gegen die Hamas-Miliz in Gaza, und nicht gegen das palästinensische Volk an sich. Nichtsdestoweniger meinte der Kaffeehausbesitzer, nicht bloss die Israelischen Streitkräfte (IDF), sondern alle Israelis respektive alle Juden seien mit der Hamas vergleichbar. Wieso wird der Vernichtungsethos der Hamas, dessen Wurzeln nach Jean Améry im Nationalsozialismus liegen, gerade von Links verharmlost, partiell übernommen und Israel selbst angedichtet, wohingegen die „rechte Reichshälfte“ Österreichs mit Israel solidarisch ist?
Linker Universalismus
Liberale, Konservative und Rechte vom Heiligen Augustinus bis zu Friedrich August von Hayek setzen philosophisch auf den Partikularismus. Moralische Maximen dürfen nicht pauschal überall, immer und für alle auf die gleiche Art und Weise gelten. Man soll, nach Aristoteles, Gleiches zwar gleich, aber Ungleiches auch ungleich behandeln. Differenzierung ist legitim und ethisch geboten.
Linke hingegen leiden an ihrem Universalismus. Ethische Gebote werden verabsolutiert und ungeachtet der Erfordernisse realer Situationen bedingungslos eingefordert. Abstrakte Theorien werden so über die Leben konkreter Individuen gestellt. Der Universalismus macht linke Bewegungen oft blind für die Grauschattierungen moralischer Probleme und verleitet sie dazu, in undifferenzierten Schwarz-Weiss-Schemata zu denken. In Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt verfallen besonders antiimperialistische Linke in das empirisch nicht haltbare, verabsolutierende Bild vom Kampf zwischen einem kolonialen Besatzer (Israel, Juden) und einer unterdrückten autochthonen Bevölkerung (Palästinenser). Dieses Gedankenkorsett vom Kolonialstaat Israel scheint humanistisch motiviert, ist aber falsch: Europäisch-jüdische Imperialisten und Kolonialisten hätten demnach einem arabisch-muslimischen Volk mit einer voll entwickelten und ausdifferenzierten nationalen Identität ihr Land mit Nazi-Methoden geraubt und, wie die Conquistadores die amerikanischen Ureinwohner, getötet, vertrieben und unterdrückt. Dieses einfache und wohl gerade deswegen so verführerische Bild ist jedoch eine Fiktion, eine Verschwörungstheorie und vielleicht eine bewusste Propagandalüge.
Historischer Hintergrund
Juden hatten über Jahrtausende eine stete Präsenz in Palästina-Israel – wie meine eigene Familie in Zfat und Jerusalem – und eine ungebrochene Tradition der territorialen Zugehörigkeit und Rückkehr. Diese Tradition nahm ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der jüdischen Nationalbewegung Fahrt auf und bedeutete einen Zuzug von Juden aus der ganzen Welt nach Palästina-Israel. In dieser Zeit war die damalige osmanische Provinz spärlich bewohnt. Im Jahre 1850 lebten dort etwa 350.000 Einwohner. Erst durch eine gezielte, massenhafte Besiedlungspolitik der Osmanen, die arabischen Neusiedlern aus ihrem Reich in Palästina-Israel Land schenkten, erreichte das Gebiet um 1880 etwa eine Million Bewohner. Das Gros der jüdischen sowie arabischen Bewohner des heutigen Palästinas sowie Israels sind also Nachkommen von Einwanderern aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Ein eigenes arabisch-palästinensisches Nationalbewusstsein ist erst in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts entstanden, seither mit dem israelischen eng verbunden und gegen dieses definiert. Beinahe alle Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern im „Heiligen Land“ bis 1948, als sieben arabische Staaten Israel unmittelbar nach seiner Gründung angriffen, wurden von palästinensischer Seite initiiert. Mein eigener Urgrossvater sowie auch sein Bruder wurden beispielsweise 1921 in Jaffa ermordet.
Der Topos vom europäischen Kolonialprojekt Israel ist unhaltbar. Weder Rohstoffe noch Güter oder Menschen flossen aus der vermeintlichen Kolonie an ein europäisches Mutterland und aus diesem wurde keine Sprache, Religion oder Kultur den „Eingeborenen“ oktroyiert. Bis zu der Staatsgründung Israels hatten Juden das Land, das sie besiedelten und kultivierten, von arabischen Grossfamilien, wie der Familie des ehemaligen Grossmuftis von Jerusalem und Hitler-Freunds al Husseini, legal gekauft. Sie hatten niemals Menschen, Ressourcen oder Kunstschätze geraubt oder versucht, muslimische oder christliche Araber zum Judentum zu konvertieren. Die ersten Generationen an europäischen Juden in Israel waren überwiegend romantische Sozialisten, die unter sich eine neue Sprache und Zivilisation schufen und keine importierte europäische Kultur einer anderen Population aufzwangen. Vielmehr herrschte unter ihnen eine Bewunderung für und teilweise Anpassung an die Lebensweise der arabischen Stämme Palästinas, wie das Beispiel des Schöpfers der neuhebräischen Sprache, Eliezer Ben Yehuda, attestiert. Selbst in Bezug auf die problematischen Siedlungen im Westjordanland ist die antikoloniale Kritik fehl am Platz, da bis dato nie ein kolonisierungsfähiger palästinensischer Staat existiert hat.
So falsch und beinahe bösartig falsch das Bild vom westlichen Kolonialstaat Israel auch ist, so beständig herrscht es in Wiener Kaffeehäusern und in österreichischen linken Bewegungen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig und komplex. Der bereits erwähnte Jean Améry, der seine Erfahrungen als Widerstandskämpfer und Holocaust-Überlebender in seinem Werk Jenseits von Schuld und Sühne philosophische aufarbeitete, kann hierbei Hilfestellung leisten.
Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg hat sich in der Bevölkerung Österreichs sowie Deutschlands ein Opfermythos verbreitet, nach dem alle Seiten im Krieg schreckliche Dinge getan und doch alle auch gelitten hätten. Nur die Juden hätten mit ihrer Finanz- und Medienmacht eine Anerkennung ihres Leides auf Kosten des deutschen und österreichischen Volkes erlangen können. Eine solcher moralischer Relativismus, der den Holocaust mit den alliierten Bombardierungen deutscher Städte gleichsetzt, ist angesichts der grossen Schande psychologisch vielleicht nachvollziehbar, intellektuell jedoch eine unhaltbare Schwarz-Weiss-Malerei. Während dieser Opfermythos in der BRD durch einen weltgeschichtlich einmaligen Prozess der Aufarbeitung und Anerkennung der Schuld entmystifiziert wurde, hat sich dieser in Österreich noch verdoppelt: Man war nicht nur Opfer einer angeblichen jüdischen Medienmacht, die ein böses Bild von einem zeichnete, sondern erstes Opfer des Deutschen Reiches, und hatte diese Ansicht völkerrechtlich auch anerkannt bekommen.
Vor dem Hintergrund dieser doppelten Opferrolle und einer nicht aufgearbeiteten, aber latent bewussten Mitschuld am Holocaust fällt mancher in Österreich leicht in alteingesessene, universalistische Denkmuster der Nationalsozialisten, namentlich des Weltkampfes zwischen Ariern und Juden. Nur tut er dies heute mit antiimperialistischen Vorzeichen: Wieder in einem Wiener Kaffeehaus erklärte mir ein Kellner, der aus einer bekannten sozialistischen Familie stammt, die Israelis benähmen sich im Westjordanland wie die Nazis in Polen. Dieser unsägliche Vergleich ist nur ein Beispiel, das Juden aus meiner Wahlheimat Wien von Linksaussen gut kennen. Der Israel-Palästina-Konflikt wird im Rahmen einer universalistisch-hegelianischen Geschichtshermeneutik von (Kolonial-)Herr und Knecht gelesen und alle historischen Fakten werden dem Narrativ des palästinensischen Befreiungskampfes untergeordnet – egal, wie weit hergeholt oder kontrafaktisch die Interpretation auch sein mag. So wird der Israeli von Goebbels „Ewigem Juden“ zum „Ewigen Kolonialherrn“ des Linken und der 7. Oktober 2023 zu einer zwar ungustiösen, aber letztendlich gerechtfertigten Verzweiflungstat einer nationalen Befreiungsbewegung.
Diese undifferenzierte Denkweise hat psychologische sowie ganz praktische Vorteile. Man positioniert sich auf der Seite der Unterdrückten und solidarisiert sich mit der in Österreich rasant anwachsenden und vermeintlich auch hier benachteiligten Bevölkerungsgruppe der Muslime, die en gros die antikoloniale Sichtweise auf den Nahen Osten teilt. Auch sind Linke einem intellektuell-revolutionären Gehabe nicht gerade abhold. Schliesslich gibt es aber auch einen subtilen Grund, der zu dieser Einstellung verleitet: die Möglichkeit, Schuld an den Verbrechen der Grossväter-Generation an den Juden, die dann auch ein Tätervolk wären, zu relativieren. Darüber sollten Linke und Antifaschisten, die sich heute bei Demonstrationen auf den Strassen Wiens mit den schlimmsten Antisemiten solidarisieren, ernstlich nachdenken.
Im Übrigen fordere ich die linken Bewegungen auf, sich aufzuklären, aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und das universalistische Gedankenkorsett vom imperialistischen Israeli und kolonial-unterdrückten Palästinenser abzulegen. Der Nahostkonflikt ist nicht in Schwarz-Weiss zu malen, sondern nur in unzähligen Grauschattierungen zu verstehen, und, so G'tt will, gütlich zu lösen.