Ausgabe

Zur geregelten Verdauung bedarf es einer Weltanschauung Erich Mühsam zum 90. Todestag

Michael Bittner

Wer war Erich Mühsam?

Inhalt

Goethe war Dichter, aber auch Staatsrat, als solcher aber würde man ihm keinen Kranz winden. Ebensowenig Grillparzer für seine Beamtentätigkeit. Oder David Bowie für seine Grafik. Bei Erich Mühsam ist es anders – war er als Dichter oder als Revolutionär bedeutender? Sagen uns heute seine morgensternigen Gedichte oder sein absoluter Wille zur Freiheit und zum Widerstand gegen die Staatsgewalt mehr? Was wird von ihm bleiben?

 

In Berlin 1878 als Sohn jüdischer Eltern geboren, wuchs er in Lübeck auf, wo sein Vater Apotheker war. Schon früh begann er zu schreiben, mit 18 wurde er wegen „sozialdemokratischer Umtriebe“ des Gymnasiums verwiesen, ein Adelsprädikat für den späteren Anarchisten.[1] Sein unstetes Leben führte ihn von Berlin nach Zürich, Italien, Wien, dann von Paris nach München, wo er, obwohl „Preiss“, das Zentralgestirn der avantgardistischen Schickeria von Schwabing wurde. Oskar Maria Graf, der Maler Georg Schrimpf, Heinrich Mann, Frank Wedekind oder Lion Feuchtwanger standen ihm nahe.

 

In seinem „Idealistischen Manifest“ von 1914 schrieb Mühsam: „Ich will Sozialismus und Anarchie. Ich weiss sie möglich, wenn Arbeit und Verbrauch auf gerechten Ausgleich gebracht sind, wenn Ordnung und Friedfertigkeit in den Menschen Leben gewonnen haben, wenn Autorität und Gehorsam, Herrschaft und Knechtschaft aus der Gewohnheit der Völker gewichen sind.[2]

 

In München bot sich auch die Gelegenheit, die Theorie in die Praxis zu übertragen, als führender Revolutionär, der die Münchner Räterepublik gründen half, war er ein paar Tage in der Regierung des Freistaats, dann mehrere Jahre im Gefängnis, in Festungshaft in Ansbach, wo seine Gesundheit erheblich litt. Nach seiner Freilassung 1924 zog er nach Berlin und machte als Schriftsteller und Anarchist weiter, „always on the outside of whatever side there was“[3], hätte Bob Dylan seine gesellschaftliche Stellung charakterisiert. Er trat für Anarchismus, Kommunismus, Menschenrechte und freie Liebe ein, war – wie Kurt Tucholsky – überzeugter Antimilitarist, erzeugte also ein grosses Spektrum an Todfeinden. Schon 1926 hatte er sich vom Judentum abgewandt, also gehörte er auch da nicht mehr dazu, so wenig wie zu anderen relevanten Gruppen oder Parteien.[4]

Im Hauptberuf war er Schreiber, für Jugend und Simplizissimus, für Tageszeitungen, für das Theater, er gab Zeitschriften heraus, zunächst Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit (die er konsequenterweise während der Kriegsjahre einstellte), später das anarchistische Magazin Fanal.

 

Vor allem schrieb er Gedichte, unnachahmlich satirisch, treffend und eingängig. 1914 erschien bei Paul Cassirier in Berlin die unterhaltsame Lyriksammlung Wüste – Krater – Wolken.[5] Der Revoluzzer ist ein schönes Beispiel, das man den Sozialdemokraten heute noch vorsagen sollte, Scholz, Babler und Genossen wüssten dann, warum es nicht funktioniert, wen man gleichzeitig „revoluzzt“ und „Lampen putzt“. Früher war mein Lieblingsgedicht „Stammbuchvers“, ich schrieb es Dutzenden jungen Mädchen ins Poesiealbum und hoffte, dass sie es verstehen würden. Lesenswert auch die Schüttelreime: „Wenn mein Hund zu bellen droht, geb ich ihm Sardellenbrot.[6] Manche Gedichte wirken seherisch auf für heutigen Leser: „Europa hat sich abgeschminkt/Befreit von Rouge und Puder/Steht eklig da das Luder/Und faucht und stinkt.“ oder „Antisemitismus ist stets ein Symptom reaktionärer Hochkonjunktur.“[7]

 

Dass er zur Zielscheibe des Hasses der Nationalsozialisten werden würde, war Mühsam wohl bewusst. Schon im Februar 1933 kam er ins KZ Oranienburg, wo er grausam gefoltert und schliesslich am 10. Juli 1934 ermordet wurde – er hatte es abgelehnt, den Freitod zu wählen. Schon im Mai 1933 waren seine Werke Opfer der Bücherverbrennungen geworden.[8]„Stiefsohn des Glücks“ schrieb ein Herausgeber[9] seiner Gedichte in das Vorwort der Neuauflage, eine gute Beschreibung seines Lebenslaufes. Die Nachwelt entdeckte ihn spät, zunächst die DDR, dann die linke Berliner Szene. 1987 war er schon so bekannt, dass die Einebnung seines Grabes am Dahlemer Friedhof verhindet werden konnte. Seit 1989 gibt es die Erich-Mühsam-Stiftung[10], ironischerweise in seiner Heimatstadt Lübeck, die einen Literaturpreis auslobt und seine Werke neu herausgibt.  Ein Glücksfall, denn Mühsams Gedichte können uns heute noch vieles sagen: „Vergebne Zeichen! Aus den Zähnen pfeift/misstönig euer ärgerlicher Spott./Kommt nie die Zeit, da ihr die Zeit begreift?/Tritt nie aus finstern Kirchen euer Gott?[11]

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Abbildung 1 Erich Mühsam 1928, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/4c/Bundesarchiv_Bild_146-1981-003-08%2C_Erich_M%C3%BChsam.jpg/415px-Bundesarchiv_Bild_146-1981-003-08%2C_Erich_M%C3%BChsam.jpg?20120225132233

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Abbildung 2 Erich Mühsam Stolperstein

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Abbildung 3 Fanal Nr. 1, 1926

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[1]    Serke, Jürgen: Die verbrannten Dichter. Beltz, Weinheim 1977, S. 132.

[5]Neuauflage im Verlag Klaus, Guhl, Berlin, 1978.

[9]Siehe Anmerkung 5

[10]https://erich-muehsam.de/ abgerufen 23.07.2024