Ausgabe

Antisemitismus im faschistischen Italien Serie, Teil I

Hubert Michael Mader

Antisemitismus bedeutete für Mussolinis Faschisten ursprünglich keine besondere Frage. 
 

Inhalt

Eine grundlegende Änderung der Situation trat allerdings 1938 ein. Von dieser waren selbst jüdische Faschisten betroffen. Björn Rosen fasst die Problematik in dem Tagesspiegel-Artikel Der Duce und seine Juden1 zusammen. „Das ist das Ende unseres Gefühls, eins zu sein mit dem italienischen Volk. War das wirklich unausweichlich? Ich glaube nicht ... Wie viele sind Ihnen seit 1919 und bis heute mit Liebe gefolgt, durch Schlachten, Kriege, haben Ihr Leben gelebt ... Ist das alles vorbei? War alles nur ein Traum? Ich kann es nicht glauben.“ So schreibt der U.S.-Journalist Alexander Stille in seinem Buch Benevolence and Betrayal über Ettore Ovazza. Der 46-jährige Ettore Ovazza war einst unter den ersten Mitgliedern von Mussolinis Faschistischer Partei (PNF). Als Mitglied der berüchtigten Schwarzhemden half er mit, den Faschisten gewaltsam die Macht im Staat zu erobern. Für Ovazza brach im Juli 1938 eine Welt zusammen. Denn er war nicht nur überzeugtes Mitglied der PNF, sondern auch – Jude. 

Am 14. Juli 1938 hämmerte die italienische (gleichgeschaltete) Presse ihren Lesern und Leserinnern den neuen Begriff der Italienischen Rasse ein. Eine Gruppe von „Rasseexperten“ publizierte ein Rassenmanifest. Darin wurde bekräftigt, das italienische Volk sei „arischen Ursprungs“, alle Italiener seien aufgerufen, ihre „althergebrachte Reinheit“ zu schützen und zu behüten; die jüdische Bevölkerung habe keinen Anteil an der Italienischen Rasse. Im totalitären Italien folgten schon bald darauf Gesetze und Verordnungen, welche den italienischen Juden systematisch auch die minimalsten Rechte nahmen. Ihnen war es nicht mehr möglich, eine höhere Bildung zu erlangen, und in Folge wurde ihnen praktisch untersagt, einen Beruf auszuüben. Die Verbote umfassten auch sogenannte Mischehen mit Christen. 

Italien und das nationalsozialistische Deutschland hatten sich einander angenähert („Achse Berlin – Rom“), doch bei allen Parallelen zeigten sich auch ideologische Unterschiede, nicht zuletzt im Verhältnis zu Juden. Der radikale Antisemitismus, ein zentrales Element der NS-Diktatur, fehlte im faschistischen Italien fast vollständig. Während die Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme 1933 mit dem Arierparagrafen jüdische Beamte in den Ruhestand versetzten, führte Guido Jung als Spross einer jüdisch-sizilianischen Familie das italienische Finanzministerium. Und 1935, als man in NS-Deutschland die Nürnberger Gesetze beschloss, wurde in Italien der Architekt Vittorio Morpugo – dessen Vater Jude war – mit dem Entwurf für die römische Zentrale der PNF beauftragt, kurz danach wurden ihm die Ausgrabungen um das Augustus-Mausoleum in Rom übertragen, Mussolinis „Herzensprojekt“. Unter den 47.000 jüdischen Italienern befanden sich Gegner des Regimes, doch die meisten hielten, wie viele ihrer katholischen Landsleute, still und „richteten sich im System ein“. Nahezu ein Drittel der jüdischen Erwachsenen waren PNF-Mitglieder; die überzeugten Faschisten traf das Manifesto della razza besonders hart; es bedeutete eine entscheidende, tragische Wendung ihres Lebens. 

In den 1920er Jahren war es auch in Italien zu einer schweren Wirtschaftskrise gekommen. Die Arbeiter streikten, das bürgerliche Italien befürchtete eine bolschewistische Machtergreifung. Die heimkehrenden Soldaten hatten in den Sozialisten, die den Krieg ablehnten, kaum Unterstützung gefunden. Im Chaos dieser Jahre setzte der Aufstieg von Benito Mussolini ein. Einst selbst Sozialist und Chefredakteur der Zeitung Avanti, hatte er sich vom Kriegsgegner zum Militaristen entwickelt. Der Duce wollte ein neues Rom erschaffen, Zentrum eines mächtigen Imperiums. Das alte System sollte durch eine junge, auch rücksichtslose Bewegung – modern und traditionell zugleich – ersetzt werden. Deren Name leitete sich von fasces (dt. Rutenbündel) ab, dem Attribut der staatlichen Macht im Römischen Reich. Nach Mussolinis Vorstellung sollte sich der „neue Italiener“ durch Mut, Disziplin und Respekt gegenüber der Autorität hervortun – Ideen, die auch bei so manchem jüdischen Italiener auf fruchtbaren Boden fielen. Tatsächlich sorgten die faschistischen Kampfbündnisse (die squadristi) für Angst und Schrecken. Mit Baseballschlägern bewaffnet bezogen die Schwarzhemden Front gegen linke politische Strömungen, geduldet, wenn nicht sogar im Auftrag konservativer Kräfte. Nach Versuchen, die Macht mithilfe der squadristi zu ergreifen, wurde Mussolini 1922 vom König zum Premier ernannt und baute, insbesondere nach 1925, einen totalitären Staat auf. Der Duce konnte durch seine Person faszinieren, als „kraftvoller Rhetoriker“ und „notorischer Frauenheld“. 

Unter all seinen Frauenbeziehungen prägte ihn jene zu Margherita Sarfatti am meisten. Aufgewachsen war die Tochter eines Rechtsanwalts in einer wohlhabenden jüdisch-bürgerlich assimilierten Familie in Venedig; konfrontiert mit dem elenden Schicksal der Verarmten wurde sie zunächst im linken Lager aktiv. Im Jahr 1912 lernte sie als Kunstkritikerin bei der Zeitung Avanti Mussolini kennen. Zwischen den beiden entwickelte sich rasch eine Affäre und Sarfatti wechselte die politischen Fronten. Unklar bleibt, ob Sarfatti vom Duce abhängig war und inwieweit sie ihn benutzte, um Einfluss und Status für ihre Künstlergruppe Novecento zu erlangen. Jedenfalls gelang es ihr, mit der Biografie Dux (übersetzt in neunzehn Sprachen) eine Kultfigur zu schaffen. Sarfatti brachte Mussolini angeblich Manieren bei, kleidete ihn ein und schärfte sein Kunstverständnis. 

Laut Historikern war Mussolini dabei „durchaus antisemitisch“ eingestellt, seine privaten Äusserungen gegen Juden waren klischeehaft und feindselig. Immer stärker sah er sie in seiner offiziellen Haltung als Drahtzieher des Antifaschismus und Anhänger der „verhassten“ Demokratie und vollzog damit einen dramatischen Schwenk – hatten doch nach 1933 jüdische Flüchtlinge ihr Heil in der Flucht nach Italien gesucht. Die Rassengesetze von 1938 waren vor allem von Mussolinis Opportunismus geprägt; sein Leben war voll von solchen nützlichen Kehrtwendungen. 

So zeigte sich seine Annäherung an das ihn mehr und mehr beeindruckende NS-Deutschland (nachdem er sich zuvor deutschfeindlich geäussert hatte) auch darin, dass er die italienischen Juden opferte. Immer weitere Radikalisierung zählte zu den Grundsätzen des Faschismus, im Äusseren (wie der italienischen Expansion in Afrika) wie im Inneren. Die Juden schienen Mussolini das geeignete Bauernopfer, um dem ganzen Bürgertum Angst einzujagen. Schon Mitte der 1930er Jahre hatte Mussolini judenfeindlichen Stimmen am rechten Rand seiner Partei Raum gewährt. Ettore Ovazza gründete damals die jüdisch-faschistische Zeitung La nostra Bandiera (dt. Unsere Flagge), die ihrerseits Antisemiten, zugleich aber auch antifaschistische und zionistische Juden angriff. 

1943 wurde Mussolinis Regime gestürzt, im Norden Italiens marschierten deutsche Truppen ein und errichteten einen Marionettenstaat, mit dem Duce an der Spitze4. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs machten deutsche, aber auch italienische Faschisten Jagd auf jüdische Männer, Frauen und Kinder. Mussolini wurde vollends zum Befehlsempfänger Hitlers, für die Verfolgung von Juden in Italien trug er ab dem Sommer 1943 gemeinsam mit den Deutschen die Verantwortung. Der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht ermöglichte es den Nationalsozialisten, die italienischen Juden nach Auschwitz zu deportieren. 

Auch Ettore Ovazza wurde ein Opfer der Shoah. Im Oktober ermordeten ihn SS-Schergen unter dem Kommando des Kärntner SS-Obersturmführers Gottfried Meir2, Ovazzas Frau Nella, der 20-jährige Sohn Riccardo und die 15-jährige Tochter Elena wurden nahe des Lago Maggiore erschossen. Margherita Sarfatti war bereits 1938 nach Paris geflohen und von dort weiter nach Argentinien. Sarfattis Schwester Nella Errera und ihr Ehemann Paolo wurden 1943 deportiert und 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Björn Lindemann forschte in Der Mythos der „italiani brava gente“ – Der Antisemitismus im faschistischen Italien3 nach einer Gesamtzahl der Opfer des Holocaust in Italien: Abgesehen von der anfänglichen Ausgrenzung der Juden verloren laut ihm in der Shoa, insbesondere nach der deutschen Besetzung Italiens ab 1943, mindestens 8.529 italienische Juden ihr Leben. 

Teil II dieses Beitrags folgt in der kommenden Ausgabe, Heft 131.

1 Björn Rosen: Der Duce und seine Juden, In: Tagesspiegel, online abgerufen unter: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/antisemitismus-in-italien-der-duce-und-seine-juden/8490650.html, 15.5.2021.

2 Vgl. Eva Holpfer: L’azione penale contro i crimini in Austria. Il caso di Gottfried Meir, una SS austriaca in Italia. In: La Rassegna Mensile di Israel, LXIX, 2003, S. 619–634. Eine Zusammenfassung unter nachkriegsjustiz.at (englisch) sowie unter cat.inist.fr (italienisch).

3 Björn Lindemann: Der Mythos der „italiani brava gente“ – Der Antisemitismus im faschistischen Italien. Zur Vergleichbarkeit von deutschem und italienischem Antisemitismus“, unter: https://webreader.mytolino.com/library/index.html#/epub?id=DT0400.9783638820721_A19329270, 17.5.2021.

4 Repubblica Sociale Italiana, die sogenannte Republik von Salò, 1943 mit Sitz in der gleichnamigen Stadt am Gardasee; Anm. d. Red.