Ausgabe

„Kaddisch“ und „Vaterunser“

Rabbiner Joel Berger

Inhalt

Die Berührungspunkte und Parallelen zwischen dem Kaddisch-Gebet der Synagogen und dem „christlichen“ Vaterunser sind vielleicht bekannt. Dennoch möchte ich auf einige Parallelen und auf manche Abweichungen der beiden Gebete aus einem aktuellen Anlass hinweisen.

Das Kaddischgebet unseres Volkes blickt auf eine beinahe 2.000-jährige Vergangenheit zurück. Sein Verfasser ist nicht bekannt. Seine Sprache ist Aramäisch. Daher meinen einige unserer Gelehrten, das Gebet könnte vielleicht aus Babylonien stammen. Möglich wäre jedoch, dass die gleiche hebräisch-sprachige Gebetsformel auch im Heiligen Land bekannt war. Biblische Parallelen finden wir zum Beispiel im Prophetenbuch Ezechiel: „…Ich werde Mich gross und heilig erweisen, und werde Mich kundtun vor den Augen vieler Nationen. Und sie werden wissen, dass Ich der Herr bin“ (Ezech. 38:23). Eine andere wichtige biblische Formel in Bezug auf das Kaddischgebet lernen wir aus dem Buch Hiob: „...der Name des Herrn sei gepriesen…“ („Jehi Schem Ha’Schem meworach“) (Hiob 1:21). Die zwei volkstümlichen Grundthesen des Kaddisch sind demnach, G’ttes Herrschaft auf Erden entstehen zu lassen, und die Erde wird sich mit dem Ruhm G’ttes füllen. Das Kaddischgebet und auch das daraus entstandene Vaterunser beinhalten die Lobpreisung G’ttes und verkünden den Glauben an die Erlösung durch G’tt. Das Kaddischgebet markiert die Übergänge zwischen den wichtigsten Abschnitten des jüdischen G’ttesdienstes und wird auch nach dem Studium eines rabbinischen Lehrstückes gesprochen. Als "Kaddisch Jatom" ist es als „Kaddisch der Waisen“ und Trauernden bekannt. 

Aus welcher Zeit die Einführung des „Kaddisch der Waisen“ stammt, wissen wir nicht genau. Aber es liegt in der menschlichen Natur, besonders in früheren Zeiten, dass, wenn man sich durch einen Schicksalsschlag G’ttes getroffen fühlte, der Leidende dennoch durch sein Bekenntnis zu Ihm den Weltenherrn durch das Rezitieren des Kaddisch Jatom vor der Gemeinschaft lobte als denjenigen, durch dessen Willen alles auf dieser Welt geschieht. Zur Zeit des Aufkommens des Christentums war das Kaddischgebet populär und beliebt.
Daher nahmen die Gründer der neuen Sekte dieses Gebet auf.  Später, im Zuge der Etablierung dieser Gruppe wurden einige Elemente und Motive des Kaddisch durch ihre Hände umgeformt, wie man im Matthäus-Evangelium (6:9) sieht: „…Unser Vater, der Du bist in den Himmeln, geheiligt werde Dein Name“. Die Einleitung zu diesem bekanntesten christlichen Gebet lautet bei Matthäus (6:6): „Du aber, wenn Du betest, so geh in Deine Kammer und, nachdem Du Deine Tür geschlossen hast, bete zu Deinem Vater…“. Die biblische Grundlage zu dieser Matthäus-Stelle finden wir im Buch des Propheten Jesaja (26:20): Geh hin, mein Volk, tritt ein in Deine Gemächer und schliesse Deine Tür hinter Dir zu…“.

Die Anfangsworte des christlichen Gebetes „Vater unser, der Du bist im Himmel“ entsprechen den hebräischen Formeln „Awinu Schebaschamajim“ in unserem Siddur. Die Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen dem Vaterunser und dem Kaddisch hören spätestens mit dem Flehen um das „täglich Brot“ in der christlichen Formulierung des Gebets auf, obwohl doch das Brot auch in unserem Leben, wie auch in vielen unserer Gebete, eine wesentliche Rolle spielt. 

All das ist mir eingefallen, als ich in einer Tageszeitung über eine Debatte von Theologen gelesen habe, in der behauptet wird, im Vaterunser wäre die „Bitte um das tägliche Brot“, diese Hauptnahrung, „gar nicht weltlich zu verstehen“. Jesus habe ein „himmliches Brot“ damit gemeint.   Bei diesem himmlischen Brot handelt es sich wohl nicht um die Nahrung, die unseren Körper sättigt, sondern um Nahrung für die Seele und den Geist. Als Jesus laut dem Evangelium das Brot bricht, spricht er aber gewiss die hebräische Form der Benediktion: „...Hamotzi Lechem min Ha’aretz…“ – „Gesegnet sei der Herr…der das Brot aus der Erde hevorbringt…“. So sprechen wir Juden von jeher vor einer Mahlzeit, die mit Brot beginnt, eine Bracha, einen Segensspruch für diese Gabe G’ttes. Unsere Gelehrten haben festgelegt, dass sogar vor dem Genuss eines Stück Brotes, das nur die Grösse einer Olive hat, eine Bracha gesprochen werden muss. Auch am Ende der Mahlzeit sagen wir ein Tischgebet, in dem wir G’tt für Speis und Trank loben.

Bei der besagten Auseinandersetzung der kundigen Theologen hat mich zuallererst überrascht, dass sie das Gebet „Vaterunser“ nicht als jüdisches Gebet mit biblischen und talmudischen Inhalten wahrnehmen. Und, dass keiner nach den jüdischen, hebräischen Grundlagen gesucht hat. Das von Jesus gesprochene „Vaterunser“ kann nämlich nur aus dem jüdischen „Kaddisch Gebet“ abgeleitet werden und nur durch dieses wird es verständlich. Diese „Bitte um das tägliche Brot“ kommt jedoch in unserem Kaddischgebet, wie bereits erwähnt, nicht vor, sondern stammt aus dem biblischen Buch Mischle, Proverbia (Kap.30:8) und hat somit ebenfalls jüdische Wurzeln („…Armut und Reichtum gib mir nicht. Speise mich mit dem mir beschiedenen Brot“). 

Wenn auch nicht im Kaddisch, so beinhalten zahlreiche unserer Gebete unser inbrünstiges Flehen um eine segensreiche Ernte des Landes und so manches Mal um unser eigenes Wohlergehen. Zugegeben, all das sind irdische Wünsche eines Volkes, das Armut, Hunger und Not hinreichend erleben, erleiden musste. Auch zur Zeit Jesu. Daher glaube ich, dass Jesus um das täglich reale Brot flehte, das, wie im Segensspruch, der „Herr aus der Erde hervorbringt…“. Die Kirchenväter, die in der Debatte der Theologen aufgeführt werden, sind unter anderem Hieronymus oder Gregor von Nyssa, die im 4. bis 5. Jahrhundert gelebt haben. Sie waren vermutlich „Kinder“ einer wohlhabenderen Zeit, in der das Brot, das „Satt sein“, realistisch war. Sie konnten es sich daher mit Leichtigkeit und rein theoretisch leisten, über das „himmlische Brot“ nachzusinnen. Ob Jesus für die Überlegungen der Kirchenväter Verständnis aufgebracht hätte, kann ich mir nicht vorstellen.