Ausgabe

Die Akkordeonspielerin des Mädchenorchesters von Auschwitz Esther Bejarano, s. A. (1924–2021)

Christoph Tepperberg

Inhalt

Esther Bejarano wurde am 15. Dezember 1924 als Esther Loewy in Saarlouis geboren. Sie war das jüngste von vier Kindern des aus Berlin stammenden Kantors, Religions- und Klavierlehrers Rudolf Loewy (1893–1941) und der aus Thüringen stammenden Lehrerin Margarete Loewy geb. Heymann (1896–1941). Der Vater animierte Esther zum Klavierspielen. Nach der Rückgliederung des Saargebietes in das Deutsche Reich 1935 wurden erste Repressionen bemerkbar. 1937 wanderten die beiden ältesten Geschwister aus. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde Rudolf Loewy verhaftet, entkam einer Einweisung in das KZ Dachau und wurde, als Halbjude klassifiziert, freigelassen. Er bereitete seine Familie auf eine schnelle Ausreise vor, bewarb sich in Zürich, wo man jedoch nur Volljuden akzeptierte. Esther besuchte zunächst die Jugend-Alija-Schule in Berlin, anschliessend ein zionistisches Vorbereitungslager für Auswanderung nach Palästina, die aber der Kriegsbeginn 1939 verhinderte. Esther kam als Zwangsarbeiterin ins Landwerk Neuendorf (Neubrandenburg) und wurde am 20. April 1943 nach Auschwitz deportiert. Ihre Eltern wurden am 29. November 1941 in Kowno (Litauen), ihre Schwester im Dezember 1942 in Auschwitz ermordet.

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Esther Bejarano mit Sohn Joram und dem Rapper Kutlu Yurtseven, 2015. Foto: Jwh, Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei,
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f3/Bejarano_%26_Microphone_Mafia%2C_70_Joer_Befreiung_vum_Faschismus-107.jpg, abgerufen am 12.08.2021


Dort bekam Esther Loewy die Häftlingsnummer 41948 eintätowiert und musste in einem Arbeitskommando Steine schleppen. Dann wurde sie beim im Aufbau befindlichen Mädchenorchester als Akkordeonistin eingeteilt. Das Orchester musste zum Ausmarsch der Arbeitskolonnen durch das Lagertor spielen, ebenso bei Häftlingsselektionen an den Rampen. Für Esther Loewy bedeutete das Orchester Verschonung vor Zwangsarbeit und bessere Versorgung mit Essen und Kleidung. Als sie an Typhus erkrankte, wurde sie auf Betreiben des SS-Hauptscharführers Otto Moll (1915–1946) in die christliche Krankenstation verlegt, wo sie bald genesen konnte. Nach einem halben Jahr im Orchester wurde Esther als viertelarisch klassifiziert, im November 1943 zusammen mit etwa 70 Frauen ins KZ Ravensbrück verlegt und dort als Zwangsarbeiterin zu Montagearbeiten im Siemens-Lager Ravensbrück verpflichtet. Dort baute sie als Sabotage diverse Schalter falsch zusammen. Im Jänner 1945 erhielt sie statt des Judensterns den roten Winkel für politische Häftlinge, durfte Essenspakete und Kleidung empfangen. Als die Alliierten näher rückten, musste Esther auf einen Todesmarsch zum Aussenlager Malchow, mit Freundinnen gelang ihr die Flucht. Nach der Befreiung kam sie in ein D.P.- Camp. und erfuhr von der Ermordung ihre Eltern; ihr Bruder hatte in den U.S.A., ihre Schwester Tosca in Palästina überlebt. 
Mitte August 1945 reiste Esther Loewy nach Palästina aus und schloss sich dort dem kommunistischen Arbeiterchor Ron an, mit dem sie 1947 in Prag und Paris auftrat, wurde 1948 zum Militärdienst nach Jaffa eingezogen und 1949 beurlaubt, um mit dem Arbeiterchor in Budapest aufzutreten. 
Am 23. Jänner 1950 heiratete sie den Lastwagenfahrer Nissim Bejarano, 1951 kam die Tochter Edna, 1952 der Sohn Joram zur Welt. Danach arbeitete die junge Mutter als Musiklehrerin. 
1960 kehrte Esther Bejarano nach Deutschland zurück, die Familie liess sich in Hamburg nieder. Ab 1978 engagierte sie sich politisch und schloss sich der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN, 1990 Bundessprecherin, 2008 Ehrenvorsitzende) an. 1982 trat sie beim Konzert für den Frieden im Bochumer Ruhrstadion auf. 1986 gründete Esther das Auschwitz-Komitee für die Bundesrepublik Deutschland, das sich jeden Samstag in ihrer Wohnung traf. 
2004 erschien ihre Biographie Wir leben trotzdem: Esther Bejarano. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden. 
In den 1980er Jahren schloss sich Esther mit ihrer Tochter Edna der Frauenfolkgruppe Coincidence an, um kritische Lieder auf Jiddisch, Hebräisch, Romanes, Deutsch, Griechisch und Ladino zu singen. Später tourte sie mit der Kölner Hip-Hop-Band Microphone Mafia durch Deutschland. Für ihr Engagement gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. 
Am 10. Juli verstarb Esther Bejarano im 97. Lebensjahr. „Die kleine Frau mit dem mutigen Herzen“ zählte zu den engagiertesten und vielseitigsten Zeitzeugen des Holocaust.

Quellen: 
Auschwitz-Komitee, Die Presse, Exxpress, Focus, Geni, Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM), MDR, NRD, RBB, Sozialistische Zeitung, Spiegel, Stern, Süddeutsche Zeitung, Tagesschau, TAZ, Wikipedia, Zeit Online.