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Der Koffer der Adele Kurzweil

Inhalt

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Manfred Theisen: Der Koffer der Adele Kurzweil. Roman.
Graz: Clio Verlag 2021.
230 Seiten, Euro 9,50.-
ISBN 978-3-902542-86-1

„Man stelle sich nur vor, eine Mara Klein aus Graz hätte die Tagebücher der Anne Frank einfach geklaut. Sie gehören der Welt wie die Sterne. Sie sind das Licht, das von uns bleibt.“ Wortgewandt, mutig, nicht um provokante Einfälle verlegen beschreitet Mara, die pubertierende Ich-Erzählerin, eine spannende, abenteuerlich-romantische Reise in die Vergangenheit. Mit ihrem Freund Philippe ist Mara bald einem Anfang der 1940er Jahre verübten Verbrechen auf der Spur. Mithilfe eines in einem verfallenen Haus in Auvillar gefundenen Tagebuchs aus dem Jahr 1942 entreisst sie dieses dem Vergessen. Im Tagebuch beschreibt André seine Treffen mit Adele Kurzweil, reflektiert seine Zuneigung, und in dieser zweiten narrativen Perspektivierung gelangen die Lesenden nun zu den Gedanken und Erfahrungen der Protagonistin von Manfred Theisens virtuosem Kriminalroman, den der auf Zeit- und Kulturgeschichte spezialisierte Verlag CLIO in Graz heuer überarbeitet herausgebracht hat. 

Adele Kurzweil, am 31. Januar 1925 in Graz geboren, war 1938 mit ihren Eltern nach Paris geflüchtet. Ihr Vater, der Sozialdemokrat und Jurist Bruno Kurzweil, hatte Berufsverbot erhalten. 1940 liess sich die Familie im südfranzösischen Ort Auvillar, nordwestlich von Toulouse, nieder, wo ihr eine Wohnung zugewiesen wurde. In Frankreich konnte Adele ihren Schulbesuch fortsetzen, hier trat sie in die von österreichischen Exilanten gegründete Rote-Falken-Gruppe ein, und hier bemühte sich Bruno Kurzweil um eine Schiffspassage und um Visa für die U.S.A., während er sich als Sprecher für die in Vichy lebenden, österreichischen Sozialisten engagierte. Am 26. August 1942 wird die Familie Kurzweil in Auvillar verhaftet. Sie wird nach Septfonds und Drancy überstellt, von wo sie nach Auschwitz deportiert und ermordet wird. 

1990 wurden im ehemaligen Rathaus von Auvillars deponierte, versiegelte Koffer der Familie Kurzweil geöffnet. „Die Erinnerung ist kein passives, unfreiwilliges Zurückkommen auf etwas, was vergangen ist. Erinnerung ist in mehrfacher Hinsicht aktives und wertvolles Tun,“ schreiben Gerhard Schneider und Marie José Ballouhey auf einer Adele Kurzweil gewidmeten Homepage (http://www.sfa-auvillar.com/pont-de-memoire/kurzweil/D_index.php). Der Kofferfund inspirierte österreichische Jugendliche zur Erstellung einer Wanderausstellung über Adele Kurzweil. Im Gedenkjahr 2008 machte sich eine weitere Grazer Jugendgruppe auf die Spurensuche, deren Ergebnisse in den intergenerativen, 2009 von CLIO veröffentlichten Band „… und Adele Kurzweil und …“ Fluchtgeschichte(n) 1938 bis 2008 (hg. von Christian Ehetreiber, Bettina Ramp und Sarah Ulrych) aufgenommen wurden: Forschungen, die Manfred Theisen zu seiner geschickt aufgebauten, abwechslungsreichen narrativen Verschränkung von Andrés Tagebuchaufzeichnungen mit Maras Erlebnissen in unserer Gegenwart inspirierten, die mit einer originellen Sprache in bevorzugt kurzen Sätzen überrascht. Theisens 2009 erstmals publizierter Jugendroman findet leise Anklänge in Jakob Arjounis Jugendroman Cherryman jagt Mister White (2011) oder Maja Nielsens Jugendbuch Tatort Eden 1919 (2018), in dem ein im Fundus einer Berliner Artistenschule gefundener Koffer mit einem Tagebuch in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und in die Ereignisse rund um den Mord an Rosa Luxemburg zurückführt. Manfred Theisens Roman Der Koffer der Adele Kurzweil eignet sich bestens als Klassenlektüre in der Schule.
Sabine Mayr