Ausgabe

Wiedergutmachung – Kleinkrieg gegen die Opfer

Inhalt

h130_49-kopie.jpg

Christian Pross:  Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer.
3. Ausg. CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg: 2021.
384 Seiten, Softcover, Preis: Euro 25,70.- (eBook: Euro 14,99.-)
ISBN: 978-3-86393-100-1 (eBook: 978-3-86393-562-71)
Christian Pross, geboren 1948, Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, Medizinhistoriker und Honorarprofessor an der Berliner Charité; Publikationen über Medizin im Nationalsozialismus, die Verfolgung jüdischer Ärzte, über die Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen und Stasi-Verfolgten (siehe: https://www.christian-pross.de/). Schon 1985-1986 hatte Christian Pross als Stipendiat über die deutsche »Wiedergutmachungspolitik« und über die medizinische Begutachtung von KZ-Überlebenden gearbeitet. Seine Forschungen wurden in dem hier zu besprechenden Buch publiziert. Die Erstausgabe war 1988 bei Athenäum Frankfurt am Main, die 2. Ausgabe 2001 bei Philo Berlin erschienen, 2021 stellt nun die EVA Hamburg die 3. Ausgabe vor. 

1952 schlossen die Alliierten, der Staat Israel und die Conference on Jewish Material Claims mit der Bundesrepublik Deutschland zwischenstaatliche Verträge zur Wiedergutmachung an den Millionen geschädigter Juden. Dazu wurden 1956 mit dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) die rechtlichen Grundlagen geschafften. Pross beschreibt in seiner umfassenden Untersuchung sowohl die Geschichte der Wiedergutmachung als auch ihre Praxis: Die restriktive Auslegung und Anwendung der kleinlich formulierten Gesetzesinhalte, die mangelnde Bereitschaft vieler Ärzte zur Hilfeleistung bei der Begutachtung gesundheitlicher Schäden, die mangelnde Fähigkeit und Einsicht der Gutachter, die Schäden mit erlittenem Unrecht in Verbindung zu bringen. Pross benennt die Akteure, rekonstruiert deren Biografien, beschreibt anhand von Beispielen und Einzelfällen die Entscheidungspraxis über die zahllosen Anträge auf Wiedergutmachung in der BRD. Nachteilig für die Antragsteller wirkte sich der gutachterliche Grundsatz aus, die Krankheitsursachen von NS-Opfern nicht mit Misshandlungen oder Haftfolgen, sondern deren Erbanlagen zu begründen. Die ärztlichen Gutachter waren zwar nicht ausnahmslos unmenschlich oder unwillig, doch in ein enges Korsett gesetzlicher Vorschriften gezwängt. Sie hatten bei der Bewertung des NS-Unrechts emotionslos (»objektiv«) nach einem vorgegebenen strengen Punkteschlüssel vorzugehen. Sie fungierten – wie auch heute noch bei der Feststellung des Grades einer Behinderung oder bei Invalidenrenten – weniger als Anwalt der NS-Opfer, sondern als verlängerter Arm der Obrigkeit. Der gutachtende Arzt »trat dem Verfolgten als Repräsentant eben jenes Staates gegenüber, der ihn eben noch gequält, verstümmelt und geplündert hatte« (S. 299). Erst 1965 kam es nach beharrlichem Insistieren der Opfer-Verbände zu einer Anpassung des BEG (»BEG-Schlussgesetz«). Das darin festgeschriebene Prinzip der »KZ-Vermutung« (Anerkennung als NS-Opfer bei mindestens einem Jahr KZ-Haft) bereitete dem unwürdigen Prozentrechnen ein spätes Ende. Diese neue Vorschrift kam allerdings nur noch einem begrenzten Personenkreis zugute. Trotz allem wurde von der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000 insgesamt 100 Milliarden DM an Wiedergutmachungsleistungen ausbezahlt. Ein umfangreicher Anhang mit Dokumenten ergänzt diese seriös recherchierte, beeindruckende und zugleich bedrückende Studie.  

Christoph Tepperberg