Ausgabe

Die Erinnerung kehrt zurück

Paul Schmitzberger

Ungefähr einhundertdreissig Jüdinnen und Juden lebten im Jahr 1938 in der Buckligen Welt, bevor sie unter dem nationalsozialistischen Regime vertrieben oder ermordet wurden. Bis vor wenigen Jahren wurden ihre Geschichten verdrängt und vergessen – bis ein engagiertes Team aus Historikerinnen und Historikern diese in einem Buch aufarbeitete. 
 

Inhalt

Johann Hagenhofer, seines Zeichens Regionshistoriker und ehemaliger Direkter eines Gymnasiums in Wiener Neustadt, hat sich schon immer für Alltagsgeschichte interessiert; „Wenn man die Menschen fragte, was eigentlich mit unseren Juden passiert ist, war die Antwort, sie seien weggezogen. Ganz so, als ob sie freiwillig gegangen wären“, erzählt er. 
Hagenhofer lebt in der Gemeinde Hochwolkersdorf in der Buckligen Welt. Zusammen mit den Historikern Werner Sulzgruber, Gert Dressel und einem 21-köpfigen Forschungsteam arbeitete er die jüdische Geschichte von sechsundzwanzig Gemeinden der Buckligen Welt auf. Dabei legten sie Biografien und Einzelschicksale frei, die im Buch Eine versunkene Welt: Jüdisches Leben in der Region Bucklige Welt-Wechselland nachzulesen sind. Hagenhofers eigener Beitrag darin handelt von der Familie Winkler, die in seinem Heimatort Hochwolkersdorf lebte. Genaugenommen waren es zwei Familien, die jeweils ein kleines Geschäft im Ort betrieben. Im Buch erinnert sich der Zeitzeuge Karl Kornfeld an seinen alten Spielkameraden Kurt Winkler, damals zwölf Jahre alt: „Der Kurt hatte einen Handwagen und lud uns oft zum Spielen ein. Er hat sich dann hineingesetzt und wir zogen ihn rund ums Dorf.“ Dafür schenkte Kurt den Kindern Schokolade aus dem Geschäft seiner Eltern. Ab März 1938 änderte sich das beschauliche Dorfleben aber dramatisch, als Österreich an das Deutsche Reich „angeschlossen“ wurde. Plötzlich wurden die Winklers im Ort angefeindet, aus Nachbarn wurden Juden. Das Geschäft der Winklers wurde geplündert, das Raubgut brachten einige Nachbarn und sogar gute Bekannte weg. Für den jungen Kurt Winkler war das aber nicht das einzige einschneidende Ereignis: eines Tages drangen zwei Hochwolkersdorfer in sein Elternhaus ein und führten seine Familie ab. „Das waren zwei SA-Leute, stellen Sie sich das vor – mit Gewehr und Bajonett! Die Namen möchte ich nicht nennen. Die Kinder oder Enkelkinder sind ja unschuldig“, erzählte Winkler Jahrzehnte später. Sie wurden wieder freigelassen, kurz darauf flohen die Winklers nach Palästina. In ihre alte Heimat zogen sie niemals zurück. Ihre Geschichte wäre wohl vergessen worden, hätte Hagenhofer nicht dazu recherchiert: Hagenhofers Tochter arbeitete damals als Reiseleiterin in Wien und kam zufällig mit einem U.S.-Amerikaner ins Gespräch, der sich als Verwandter der Familie Winkler entpuppte. Nach dieser Zufallsbegegnung konnte Hagenhofer Kontakt zu Kurt Winkler aufnehmen. Es folgten gegenseitige Besuche in Tel Aviv und Hochwolkersdorf sowie mehrere Gespräche und Interviews. 

Einer von Kurt Winklers Sätzen blieb Hagenhofer dabei besonders im Gedächtnis: „Am meisten kränkt es mich, dass wir völlig aus Hochwolkersdorf wegradiert sind. Nichts erinnert mehr an uns. So, als ob es uns nie gegeben hätte!“ Deshalb setzte sich Hagenhofer auch dafür ein, dass eine Gedenktafel für die sieben vertriebenen jüdischen Mitbürger in Hochwolkersdorf aufgestellt werden sollte – was im Jahr 2012 auch tatsächlich geschah. Kurt Winkler konnte diese nicht mehr besichtigen, weil er zu diesem Zeitpunkt schwer erkrankt war und 2016 in Tel Aviv starb. „Aber in einem unserer letzten Telefonate sagte er mir, nun könne er in Ruhe gehen. Weil die Gedenktafel errichtet wurde“, erzählt Hagenhofer. Aber bei weitem nicht alle Geschichten haben ein derart versöhnliches Ende; viel zu oft standen am Schluss der Biografien auch hier nur Verschleppung und Tod in Konzentrations- oder Vernichtungslagern. Von den 130 jüdischen Menschen, die im Jahr 1938 in der Buckligen Welt gelebt hatten, kamen mindestens sechzig ums Leben, zwölf Fälle blieben ungeklärt, der Rest floh nach dem Anschluss im März 1938 in verschiedenste Länder rund um die Welt. Nur eine Familie kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft aus Südamerika in die Bucklige Welt zurück. Die versunkene Welt leistet daher einen interessanten Beitrag, damit die Geschichten dieser jüdischen Familien nicht länger vergessen bleiben. 

Eine Langfassung dieses Beitrags finden Sie auf unserer Homepage, www.davidkultur.at

Zum Buch:
Johann Hagenhofer/Gert Dressel/Werner Sulzgruber (Hg.): Eine versunkene Welt. Jüdisches Leben in der Region Bucklige Welt-Wechselland. KRAL Verlag 2019.
288 Seiten, Euro 29,90.-
ISBN: 978-3990247976