Gerhard Baumgartner/Herbert Brettl:
„Einfach weg!“ – Verschwundene Romasiedlungen im Burgenland.
Wien-Hamburg: new academic press, 2020.
414 Seiten, zahlreiche Abbildungen auf Hochglanz, Preis: Euro 37,90.-
ISBN: 978-3-7003-2187-3
Die Autoren: Gerhard Baumgartner, Doyen der Geschichte der burgenländischen Roma und seit 2014 wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes; Herbert Brettl, vielgelesener Historiker und Publizist zur burgenländischen Alltags- und Zeitgeschichte.
Der voluminöse, reich bebilderte, repräsentative Band behandelt ein lange Zeit ausgeblendetes Kapitel burgenländischer Geschichte. Bis zu ihrer Zerstörung durch die Nationalsozialisten bestanden im Burgenland über 120 Romasiedlungen, von denen heute nur noch ganz wenige existieren. Für dieses Buchprojekt wurden zahlreiche historische Bilddokumente und Archivquellen zusammengetragen.
Das Dokument für erste dauerhafte Ansiedlungen von Roma im heutigen Burgenland ist ein Schutzbrief aus 1674 für eine Roma-Gruppe auf batthyányschen Besitzungen im heutigen Südburgenland. Im 18. Jahrhundert erhielten zahlreiche Roma- und Sinti-Familien durch Zwangsansiedlung von Maria Theresia und Josef II. in einzelnen Dörfern Grundbesitz zugewiesen. Im 19. Jahrhundert war der Gross-
teil von ihnen bereits sesshafte Landarbeiter, ein kleiner Teil wandernde Dienstleister. Die grossen „Zigeunersiedlungen“ entstanden erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.
In der Zwischenkriegszeit gab es im Burgenland über 120 „Zigeunersiedlungen“ mit je 10-300 Personen, meist an den Ortsrändern gelegen, die grössten in Oberwart und Stegersbach. In der Weltwirtschaftskrise um 1930 kehrten zahlreiche burgenländische Landarbeiter aus anderen österreichischen Bundesländern ins Burgenland zurück und verdrängten die Roma vom Arbeitsmarkt. Fatale Folgen waren Hunger, Tod und Elend unter den Roma, die Kindersterblichkeit betrug über 50 Prozent. Die verelendeten Roma wurden von der bäuerlichen Bevölkerung zunehmend als „asoziale Elemente“ wahrgenommen. 1933 wurde in Oberwart bei einer Bürgermeisterkonferenz die Lösung des „Zigeunerproblems“ erörtert. Dabei waren Deportation nach Madagaskar, Internierung in Arbeitshäusern, Unterbringung in „Zigeunerreservaten“ nach dem Vorbild der nordamerikanischen „Indianerreservate“ nur einige der diskutierten Vorschläge, denn, wurde gesagt, „man könne sie ja nicht gleich alle umbringen!“
Durch den „Anschluss“ 1938 wurden Roma und Sinti vollends entrechtet und in Zwangsarbeitslager deportiert. Von den 12.000 burgenländischen Roma und Sinti fielen über 90 Prozent dem NS-Regime zum Opfer. Ab 1940 wurden Tausende im Lager Lackenbach (Bezirk Oberpullendorf), dem grössten „Zigeunerlager“ des Dritten Reiches, interniert (Höchststand 1941 mit 2335 Personen). 1941 wurden 5007 österreichische Roma und Sinti nach Litzmannstadt (Łódź/Polen) verschleppt und 1942 im Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) ermordet, Tausende starben 1943-1945 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die burgenländischen Romasiedlungen wurden ausnahmslos zerstört, die Häuser abgetragen oder niedergebrannt. Das Burgenland war „zigeunerfrei“.
Von den 120 burgenländischen Romasiedlungen konnten die beiden Autoren 116 rekonstruieren. Die Hauptquellen hierfür sind die überlieferten einzigartigen Fotos. Der Gross-teil wurde von Polizisten bei Amtshandlungen (Razzien) aufgenommen. Sie dokumentieren nicht das Leben der Roma, sondern zeigen diese in tendenziösen, gestellten Posen. Wenngleich nicht intendiert, dokumentieren diese Bilder dennoch die prekären Lebensverhältnisse der Volksgruppe.
Nach 1945 erfolgte mit zwanzigjähriger Verzögerung die Anerkennung und Entschädigung der österreichischen Roma und Sinti als NS-Opfer. Inzwischen haben sich die Verhältnisse grundsätzlich geändert. 1989 erfolgte in Oberwart die Gründung des ersten österreichischen Roma-Vereins, 1993 die Anerkennung als autochthone Volksgruppe. Zynischerweise trug erst der Roma-Mord in Oberwart 1995 zur gesellschaftlichen Anerkennung der Roma und Sinti bei. Das einst verschwiegene Thema der Romasiedlungen stösst inzwischen auf breites Interesse und öffentliche Akzeptanz. Indikator für die neue Sichtweise sind auch die Geleitworte von Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Landeshauptmann Hans Peter Doskozil zu diesem Buch.
Der vorliegende Prachtband ist nicht mit Fussnoten versehen, sei daher kein wissenschaftliches Werk, sondern ein Lesebuch, meint Gerhard Baumgartner. Will man dieser Definition folgen, so ist es ein „Lesebuch“ im besten Sinne des Wortes und ein beeindruckender Bildband!
Christoph Tepperberg