Ausgabe

Netzwerke über Generationen Moritz Hartmann, Ernst Waldinger, Lucy Tal

Tina Walzer

Inhalt

Moritz Hartmann (15.10.1821 – 13.5.1872) wurde im böhmischen Duschnik (tschech. Trhové Dušníky) als Sohn eines jüdischen Hammerwerksbesitzers und einer Tochter von Isaac Spitz, Rabbiner und av beit din von Jungbunzlau (tschech. Mladá Boleslav), geboren. Studien der Medizin, Philosophie und Literatur führten ihn zunächst nach Prag; ab 1840 setzte er dann in Wien fort. Hier verfasste er auch erste literarische Werke, während er sein Einkommen als Privat-Erzieher bestritt. Die Stelle hatte ihm ein Mitschüler, Leopold Kompert (1822 – 1886) verschafft: dieser später genauso bekannte Autor arbeitete selbst bei der wohlhabenden jüdischen Familie Moriz Jacob Ritter von Goldschmidt als Hauslehrer, zusammen mit dem späteren Literaten und Opernlibrettisten Salomon Hermann Mosenthal (1821 – 1877)1. Mosenthal wiederum brachte Hartmann mit Heinrich Heine (1797 – 1856) in Kontakt.

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Moritz Hartmann, österreichischer Journalist, Schriftsteller, Politiker, 1865. Autor: unbekannt. Abdruck in der von Hartmann geleiteten Stuttgarter Zeitschrift „Freya“, Bd. 05 (1865), S. 65. Quelle: wikimedia Commons, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Moritz_Hartmann_(Freya_05-1865_S_65).jpg


Ab 1844 wechselte Hartmann nach Paris, Leipzig und schliesslich Berlin, wo er wegen seines politischen Engagements – zunächst noch auf literarischem Gebiet mit vormärzlich liberal gestimmten Gedichten, Romanen, Satiren und Novellen – polizeiliche Verfolgung auf sich zog. 1847 kehrte er nach Böhmen zurück und wurde prompt in einem Prager Gefängnis kurz interniert, bevor er zum Abgeordneten des Distrikts Leitmeritz (tschech. Litoměřice) für die radikale Linke in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt wurde; seine politische Karriere begann. Als Vertreter der Demokratischen Linken nahm er aktiv am Oktoberaufstand in Wien 1848 teil, wiewohl Offizier der Nationalmiliz. Abermals musste er fliehen, diesmal vor der Todesstrafe, und jetzt zielte er direkt nach Frankfurt, wo ihn sein politisches Mandat vor weiterer Strafverfolgung bewahren sollte. Er folgte dem Parlament noch nach Stuttgart, bevor er wie viele Mandatare ins Schweizer Exil ging, und von dort nach England sowie weiter nach Frankreich. 1850 – 1854 lebte er nochmals in Paris, wo als väterlicher Mentor der bereits schwer erkrankte Heine ihn unter seine Fittiche nahm. Hartmann gelang es in der Folge, im Jahr 1860 zu Vorlesungen über deutsche Literaturgeschichte an die Akademie in Genf berufen zu werden, woraus sich ein Angebot der Zeitschrift Freya zurück nach Stuttgart ergab. 1863 begann er dort als Redakteur, nach zwei Jahren leitete er bereits die Redaktion. 
Parallel dazu nahm er seine Kontakte nach Wien wieder auf. Zu seinem mehrere Generationen umspannenden Freundeskreis zählten der Chirurg Theodor Billroth (1829 – 1894) ebenso wie der Philosoph Theodor Gomperz (1832 – 1912) und dessen Schwestern Josephine von Wertheimstein (1820 – 1894) und Mina Gomperz (1827 – 1886), der Arzt Josef Breuer (1842 – 1925), der Politiker Johann Nepomuk Berger (1816 – 1870) und der Historiker Heinrich Friedjung (1851 – 1920). Die Freunde setzten sich für ihn ein und erreichten für Hartmann eine Amnestie. 1868 wurde er Feuilletonist, bald darauf auch Burgtheater-Referent der Neuen Freien Presse in Wien. Er verfasste das deutsche Libretto zur Oper Der Cid von Théodore Gouvy (1819 – 1898), ein Auftragswerk für die Königliche Oper Dresden. Gouvy vertonte auch einundsechzig von Hartmann übersetzte Gedichte de Ronsards, Desportes‘ und der Pléiade française. 
Heute gilt Moritz Hartmann als Chronist der Wiener 1848er-Revolution. Als er 1872, im Alter von nur einundfünfzig Jahren, in Wien-Oberdöbling verstarb, war sein Sohn, der spätere Schriftsteller und Kulturpolitiker Moriz Ludo Hartmann (1865 – 1924) gerade sieben Jahre alt geworden. Die Freunde des Vaters halfen dem Kind, seinen eigenen Weg in die Welt der Literatur zu finden.2 Ludo Hartmann seinerseits fungierte über das Volksheim Ottakring als Bindeglied zwischen Ernst Waldinger und dem Tal Verlag:

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Ernst Waldinger. Otto Müller Verlag Salzburg, mit freundlicher Genehmigung. https://www.omvs.at/autor/waldinger-ernst/
 

Ernst Waldinger
Der Schriftsteller Ernst Waldinger (16.10.1896 Wien-Neulerchenfeld – 1.2.1970 New York) ist uns durch Lyrik und Essays bekannt. Seine Familie war aus Galizien nach Ottakring zugewandert: der Vater Salomon Waldinger betrieb ein Schuhgeschäft im Adler-Hof in der Neulerchenfelderstrasse 2, die Familie wohnte auf Nummer 5, neben der Mutter Anna geb. Spinath zählten noch die Brüder Theodor und Alfred sowie die Schwester Dinah dazu. Eine Kriegsverletzung am Kopf führte 1917 zum Verlust des Sprechvermögens; dennoch studierte Waldinger Germanistik und Kunstgeschichte. Nach seiner Promotion 1921 begann er im Verlag Allgemeiner Tarifanzeiger von Alexander Freud (1866 – 1943 Toronto, Canada) mitzuarbeiten und heiratete fünf Jahre später mit Beatrice Winternitz in die Freud-Familie ein.
Zu den Schriftstellern Hermann Broch (1886 – 1951 New Haven, Connecticut) und Josef Weinheber (1892 – 1945), deren Freundeskreise sich überschnitten, pflegten die Waldingers enge Kontakte, die politischen Entwicklungen in Österreich und Deutschland wurden dort aufmerksam verfolgt und diskutiert. 1933 zählte Waldinger zu den Gründungsmitgliedern der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller.3 Zwei Jahre später startete er zusammen mit Theodor Kramer (1897 – 1958) und Gerhart Herrmann Mostar (1901 – 1973) eine Publikationsreihe namens Das kleine Lesebuch, um Autoren zu unterstützen, die vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten aus Deutschland hatten fliehen müssen. Nach der NS-Machtübernahme in Österreich in höchster Gefahr, gelang den Waldingers mit ihren Kindern Hermann-Valentin und Ruth Ende August 1938 die Flucht nach New York. Dort begründete der umtriebige Netzwerker mit dem politisch hoch aktiven Exilverleger Wieland Herzfelde (1896 – 1988)4 1944 den Aurora Verlag. Nach Kriegsende begann Waldinger wieder in Österreich zu publizieren, in den Zeitschriften PLAN, das silberboot, Der Turm, Wort in der Zeit und anderen. Waldingers Werke kreisten nun thematisch um seine Erfahrungen im Exil; 1958 erschien Zwischen Hudson und Donau, im selben Jahr erhielt er den Theodor Körner Preis, 1960 den Literaturpreis und 1966 die Ehrenmedaille der Stadt Wien. Parallel unterrichtete er von 1947 bis 1965 Deutsche Sprache und Literatur am Skidmore College in Saragote Springs, N.Y. Ernst Waldinger verstarb 1970 in Amerika.

Lucy Tal
Ein weiteres Paar aus dem Umfeld Weinhebers waren der Lyriker und Verleger Ernst Peter Tal (Ernst Sigmund Rosenthal, 14.12.1888 – 30.11.1936) und die Übersetzerin und Verlegerin Lucy Fanny Tal geb. Traub (28.10.1896 Wien – 2.7.1995 New York City). Der Nachkomme einer Wiener Schlosserdynastie begann 1908 zu schreiben und fand zwei Jahre darauf Anstellung beim S. Fischer Verlag in Berlin, dessen Theaterabteilung er ab 1913 leitete. Er konnte Kontakte zu Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) und Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929) knüpfen, vor allem aber zu Stefan Zweig (1881 – 1942 Petrópolis, Brasilien); die Karriere wurde durch den Militärdienst an der Front in Galizien unterbrochen. 1917 heiratete er in Ungarn die Tochter Aladár Traubs aus Szeged. Zurück in Wien, gelang 1919 die Gründung des E.P.Tal & Co. Verlags. Unterstützt wurden die Tals dabei von Stefan Zweigs Freund, dem Schweizer Schriftsteller und Mäzen Carl Seelig (1894 – 1962), und Zweig vermittelte dem neugegründeten Verlag Erfolgsautoren, darunter Hermann Hesse und Romain Rolland. In dieser Zeit absolvierte Lucy Tal ihre Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin im eigenen Betrieb und arbeitete an Veröffentlichungen von Egon Friedell, Anton Kuh, Raoul Auernheimer, Felix Dörmann, Maria Lazar, Hugo Sonnenschein („Sonka“), Ernst Toller, Ferenc Molnár und Claire Goll. Die Tals gingen interessante Kooperationen mit anderen Verlegerfamilien ein, so mit Emil Hertzkas (1869 – 1932) Musikverlag Universal-Edition: Hertzkas Nachbar in Josef Hoffmanns Kaasgraben-Kolonie, der Komponist Egon Wellesz (1885 – 1974 Oxford) erklärte sich bereit, das Projekt fachlich zu beraten und steuerte ein Buch über Arnold Schönberg bei. Lucy Tal begann, erfolgreiche englischsprachige Autoren zu übersetzen; der E.P.Tal Verlag konnte deutschsprachige Erstausgaben von Sinclair Lewis, Thornton Wilder und Somerset Maugham herausbringen. H.D. Lawrence’s Skandalroman verlegten die Tals 1930 unter dem Titel Die Ehe der Lady Chatterley (Zweig hatte ein weiteres Mal Kontakte hergestellt), ein anderer Schwerpunkt lag bei Übersetzungen klassisch-englischer Kriminalromane (Dorothy L. Sayers, Agatha Christie). Ähnlich wie die Gruppe um Waldinger kümmerte sich der Verlag ab 1933 zunehmend auch um in Deutschland verfolgte Autoren: Max Brod, Roda Roda, Arnold Höllriegl, Gina Kaus fanden zu E.P.Tal & Co.

1936 starb der damals 17-jährige Sohn Thomas Tal, sein Vater erlag im selben Jahr mit nur 47 Jahren einem angina pectoris-Anfall. Die plötzlich ihrer ganzen Familie beraubte Lucy Tal führte den Verlag alleine weiter. Im März 1938 konnte sie nach London fliehen, und von dort verhalfen ihr Geschäftskontakte in die U.S.A.; Metro Goldwyn Mayer vermittelte Aufträge zur Dramatisierung literarischer Werke für Drehbücher der Hollywood-Filme. Der Verlag wurde arisiert, Lucy Tal kehrte nicht mehr nach Österreich zurück.

1 vgl. Tina Walzer: Wie wohl thut das Erinnern. Zum 200. Geburtstag des Schriftstellers Salomon Hermann Mosenthal. In: DAVID 128, Pessach 2021, S. 58-59.
2 vgl. Tina Walzer: Erwachsenenbildung für eine bessere Welt. Die Begründer der Wiener Volkshochschulen und Arbeiterbüchereien. In: DAVID 123, Chanukka 2019, S. 42-43.
3 ebd.
4 vgl. Tina Walzer: Dazugehören, nicht dazugehören. Marcel Proust, John Heartfield, Natalia Ginzburg. In: DAVID 129, Sommer 2021, S. 33.35

http://theodorkramer.at/projekte/exenberger/mitglieder/dr-ernst-waldinger
Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien 2000; zu Waldinger: S. 665 ff, bearbeitet von Armin Eidherr, Salzburg.
Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Böhlau Verlag 1985, hier: Bd. 1; online: http://verlagsgeschichte.murrayhall.com/?page_id=143#Heading15
Evelyn Adunka/Gabriele Anderl: Jüdisches Ottakring und Hernals. Mandelbaum Verlag 2020 (überarbeitete und ergänzte Neuauflage).
Freya Katharina Schmiedt: Der E. P. Tal-Verlag. Eine Edition der Korrespondenz E. P. Tal – Carl Seelig. Dipl.-Arb. Universität Wien. Wien 2002.
Der Wiener Tag, 1.12.1936, S. 5 Nachruf, online: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=tag&datum=19361201&seite=5&zoom=33