10.000 Deutsche und ÖsterreicherInnen schlossen sich nach gelungener Flucht vor den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges den britischen Truppen an, um mitzuhelfen, Hitler niederzuringen. Eine dieser vielen Heldinnen soll hier vorgestellt werden.
Das Leben nach der Flucht
Alice Anson (geb. Gross) wurde im September 1924 als Tochter von Edith und Otto Gross in Wien geboren. Ihr Vater, in den 1920er Jahren Direktor einer Bank in Wien, hatte im Ersten Weltkrieg in der österreichisch-ungarischen Armee gedient und war für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden. Ihr Grossvater besass eine Fabrik in der Stadt und hatte einen grossen Freundeskreis im Ausland.
Alice verliess Wien im Oktober 1938, um bei einigen Freunden ihres Grossvaters in England zu bleiben. Im Februar 1939 flohen beide Eltern über die Tschechoslowakei aus Österreich und gelangten schliesslich nach England. Sie lebten zunächst in Coulsdon, Surrey, und Alice wurde wie ein Mitglied der Gastfamilie behandelt. Sie half den Kindern und erledigte Aufgaben im Haushalt. Bei Kriegsausbruch wurde sie bei einer Familie in Cricklewood im Norden Londons einquartiert. Schliesslich wurde sie fast vier Jahre lang bei Debenham & Freebody in der Wigmore Street als Schneiderin ausgebildet.
Bald nach Ausbruch des Krieges wechselte die Firma von der Schneiderei zur kriegswichtigen Herstellung von Armeeuniformen. Alice erinnert sich: „Ich habe anderthalb Jahre lang Riemen für die Gürtel der Armee-Kampfanzughosen hergestellt“. Danach nahm sie eine Stelle bei einer Schneiderin in South Kensington an, bevor sie zu The White House in der Bond Street, einem Geschäft für hochwertige Kleider und Dessous, wechselte. Alice meldete sich freiwillig zur Armee und im März 1943 trafen endlich ihre Einberufungspapiere ein. Sie wurde für die Woman’s Auxiliary Air Force (WAAF) angenommen, eine seltene Einberufung für eine Österreicherin.
Die in Wien geborene Alice Gross (verheiratete Anson) als Soldatin in der britischen Woman’s Auxiliary Air Force. Foto: Alice Anson. Quelle: https://ww2aircraft.net/forum/attachments/alice-anson-jpg.467689/
„Dienen Sie in der WAAF mit den Männern, die fliegen“ – Hebräisches Rekrutierungsposter, ca. 1943. Foto: Dobkin Family Collection of Feminism.
Das Leben bei der WAAF
„Ich wurde nach Innsworth in Gloucester-
shire geschickt“, erinnert sich Alice Anson, „wo ich mit meiner Uniform ausgestattet wurde. Ich lernte das Marschieren und den Drill kennen. Nach vier Wochen erhielt jeder seinen Posten. Ich wollte Fahrerin werden, aber es gab keine freien Stellen, also wurde ich als Schreiberin eingeteilt. Schliesslich wurde ich nach Madeley in Herfordshire geschickt, einem Ausbildungslager für Luftwaffensignale mit 800 Männern und 100 Frauen.
Wir waren in Nissenhütten auf einem WAAF-Gelände einquartiert. Ich arbeitete in der Zentrale und leitete Leute weiter. Wenn zum Beispiel jemand seine Prüfungen nicht bestand, füllte ich den Papierkram aus, damit er zu seiner Einheit zurückkehren konnte. Ich organisierte auch alle Reisegenehmigungen.
Nach etwa acht Monaten bat ich um eine erneute Musterung für die Ausbildung zum Fotografen. Ich wurde zur „No. 1 School of Photography“ in Farnborough, Hants, geschickt, wo ich zwölf Wochen lang ausgebildet wurde und jede Woche Prüfungen ablegte. Am Ende der Ausbildung wurde ich als LACW – leading aircraft woman – eingestuft, das war ein besseres Ergebnis, als ich zu hoffen gewagt hatte.
Von Farnborough aus wurde ich zur Royal Air Force (RAF) in Croydon versetzt, wo wir in Privathäusern einquartiert waren. Wegen der Bombenangriffe schliefen wir alle Nächte im „Morrison-Bunker“ und trugen ständig Stahlhelme wegen des beginnenden V1-Bombardements, von dem eines der ersten Croydon heimsuchte.
Von dort wurde ich zur RAF Gatwick versetzt. Das Hauptquartier war bekannt als „Beehive“, weil es wie ein Bienenstock aussah, es ist heute ein denkmalgeschütztes Gebäude ausserhalb des Flughafengeländes von Gatwick. Meine Aufgaben bestanden darin, dem Zahnarzt zu helfen, weil es auf der Basis keine fotografische Abteilung gab.
Von Gatwick aus wurde ich zum Bomber-Kommando in High Wycombe versetzt, das eine unterirdische fotografische Abteilung hatte. Wir waren für die Verarbeitung der 5 Zoll breiten Filmstreifen verantwortlich, die von den Zielkameras der Bomber kamen. Nach der Entwicklung und dem Abzug wurden die Fotos nach nebenan zu den Bildauswertern gebracht. Manchmal kamen sie zur Vergrösserung zu uns zurück, je nachdem, was die graphischen Auswerter auf dem Bild gesehen hatten.
In einem Fall wurde uns ein Foto zurückgeschickt und ein Ausschnitt etwa in der Grösse einer Briefmarke markiert. Wir wurden gebeten, nur diesen Bereich zu vergrössern. Wir liessen das Foto damals mit Glasplatten fotografieren, um es auf 20 mal 16 Zoll zu vergrössern. Das wurde dann an die Bildauswerter zurückgeschickt und so fanden wir heraus, wo die V1-Flugbomben in Nordfrankreich gestartet wurden.
Von High Wycombe wurde ich nach Sturgate, Lincs., geschickt, wo ich wiederum dem Bomber-Kommando unterstellt war und Druck- und Entwicklungsarbeiten durchführte. Hier wurden die F24-Kameras an den Flugzeugen befestigt und die Filme kamen zum Entwickeln zu uns zurück.“
Das Leben im neuerworbenen Frieden
Nach dem Krieg meldete sich Alice freiwillig zum aktiven Dienst in Übersee und landete im März 1946 in Heliopolis in Ägypten. Von dort ging sie zur RAF Islmailia, um fotografische Aufgaben zu erfüllen, und dann zu einer Arbeitsstation, 107 Maintenance Unit. Später wurde sie zusammen mit drei anderen Fotografen zur RAF Deversoir versetzt, wo sie im Büro des Warrant Officers neben deutschen Kriegsgefangenen arbeitete, die sich über die angenehme Arbeit freuten und gut versorgt wurden. Dort war sie damit beschäftigt, für die Militärbehörden Fotos von wichtigen Ereignissen zu machen, wie zum Beispiel von Paraden für die Beerdigung einer Auxiliary Territorial Service-Frau, die von einer Bombe getötet wurde.
Zu Weihnachten 1946 wurde Alice demobilisiert und kehrte nach London zurück. Im Jahr 1951 heiratete sie den Flüchtlingskollegen Colin Anson, der ebenfalls in den Reihen der Briten kämpfte. Später arbeitete sie als Society-Fotografin und berichtete über gesellschaftliche Ereignisse. Während ihrer Zeit dort machte sie unter anderem offizielle Fotos bei der Silberhochzeit des damaligen Herzogs und der Herzogin von Norfolk und bei einem von Mrs. Atlee gegebenen Tee in der Downing Street 10.
Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung A. Verdnik.