Ausgabe

Der vergessene Holocaust

Inhalt

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Frida Michelson: Ich überlebte Rumbula. 
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2020. 
224 Seiten, Euro 22.-
ISBN: 978-3-86393-093-6
Frida Michelson (1906 – 1982) lebte und arbeitete zur Zeit der deutschen Okkupation als Schneiderin in Riga, der Hauptstadt Lettlands. Der Wald von Rumbula bei Riga wurde am 30. November und 8./9. Dezember 1941 zum Schauplatz grausamer NS-Verbrechen: jüdische Männer, Frauen, Kinder wurden an diesen Tagen in einem Todesmarsch aus dem Ghetto von Riga in den Wald von Rumbula getrieben, dort in Massenerschiessungen ermordet und verscharrt. Über 27.000 Menschen, unter ihnen auch 1.053 Berliner Juden kamen grausam zu Tode. Das Massaker am 8. Dezember haben nur sechs Personen, unter ihnen die damals 35jährige Frida Michelson, überlebt. Wie ihr das gelang und wie sie die Jahre bis Kriegsende überleben konnte, wird in diesem Buch erzählt. In einer sachlichen und zugleich bewegenden Sprache berichtet sie über den Einmarsch der deutschen Truppen in Lettland, über Ausgrenzung, Verfolgung, Zwangsarbeit, Ghettoisierung und Vernichtung, von ihren Irrfahrten von Versteck zu Versteck, über Rückschläge und Verzweiflung, von ihrem Mut und Kraft zu überleben, bis hin zur Befreiung durch die Rote Armee, die allerding in jedem Überlebenden des Genozids einen Kollaboratur vermutete. Ein berührender, authentischer Bericht, ein einzigartiges Zeitdokument. Wie konnte sich Frida Michelson im letzten Augenblick durch Zufall vor den tödlichen Salven retten:
»Steh‘ sofort auf und zieh‘ dich aus!« »Ich bin schon ganz ausgezogen«, antworte ich dem Schutzmann weinend, »ich habe nur ein Nachthemd an.« »Dann geh‘ weiter und mach kein Theater!« Ich gehe weiter, schreie wieder und raufe mir die Haare, ohne zu fühlen, dass ich sie mir büschelweise ausreisse. Ein anderer Schutzmann fängt an mich zu beschimpfen, weshalb ich noch nicht ausgezogen sei, doch im selben Moment kommt aus der Kolonne eine weinende Frau zu ihm gerannt [...]. Ich nutze den Moment, da der Schutzmann durch das Gespräch mit der Frau abgelenkt ist, indem ich mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden werfe und reglos wie tot im Schnee liegen bleibe. Kurz darauf höre ich, wie in der Nähe Zwei miteinander reden: »Was liegt da?« »Ist sicher tot«, antwortet der andere. [...] Die Waffen dröhnen unablässig [...]. Ich höre, wie in der Nähe geschaufelt wird. Wahrscheinlich vergraben sie die Erschossenen. [...] Plötzlich erklingen ganz nah Stimmen auf Lettisch: »Rauchen wir eine!« »Das war eine perfekte Arbeit!« »Sie haben Erfahrung« [...] Eine Weile ist wieder alles still. Plötzlich zerschneidet von der Grube her das Weinen eines Kindes die Stille: »Mama! Mama!« Mehrere Schüsse ertönen. Das Weinen des Kindes verstummt. Stille [...]. »Niemand entkommt lebendig aus unserem Kessel!« [...] Ich beginne langsam aus dem Stiefelhaufen hervorzukrabbeln. Ja, es ist tatsächlich schon dunkel. [...] In der Dunkelheit betaste ich die Kleidungsstücke. Ich finde drei übereinandergezogene Jacken und ziehe sie an. [...] Ausserdem finde ich zwei Wollschals – einen wickle ich mir um den Hals, den anderen um die Hände [...] Wohin soll ich jetzt gehen? Vielleicht sind die Deutschen überall? Werde ich es schaffen weiterzukommen? (S. 59-63).

Erste Aufzeichnungen von Frida Michelson wurden ihrem Mann Mordechai 1950 vom KGB konfisziert. In den 1960er Jahren schrieb sie auf Anregung des 1934 in Preiļi/Lettland geborenen jüdischen Aktivisten David Silberman ihre Erinnerungen nochmals nieder, auf Jiddisch, ihrer Muttersprache. Silbermann transkribierte die von Frida Michelson in einzelnen Heften niedergeschriebenen jiddischen Aufzeichnungen und übersetzte diese ins Russische. David Silberman, der nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Lettland ebenfalls dem Tod entrinnen konnte, gelang 1971, wie auch Frida Michelson mit ihren beiden Söhnen Lev und Daniel, die Ausreise aus der UdSSR nach Israel. Frida lebte mit ihren Söhnen in Haifa und verstarb 1982 in Israel. 1973 erschien in Israel Silbermans russische Übersetzung, 1979 und 1982 in New York eine englische/amerikanische Fassung. 2005 wurde eine erweiterte russische Ausgabe in Lettland veröffentlicht und 2011 in Moskau nachgedruckt. Erst 2014 erschien in Riga eine Übersetzung ins Lettische, welche die Grundlage für eine 2016 von Matthias Knoll angefertigte deutsche Übersetzung bildete. 2020 endlich – 60 Jahre nach Entstehung der Urfassung – sind die Memoiren auch in deutscher Sprache erschienen. Das jiddische Original wird heute in Riga im Jüdischen Museum von Lettland verwahrt. 

Frida Michelson hatte ihre Erinnerungen in einem Block ohne Kapiteleinteilung niedergeschrieben. Die Kapitel der gedruckten Ausgaben stammen von David Silberman. Sie geben einen ersten Eindruck von der bewegenden und zugleich spannenden Lektüre: Der Beginn der Tragödie; Varakļāni; Die Rigaer Präfektur / Zwangsarbeit; Ghetto; Die erste Aktion; Die zweite Aktion; Auf der Flucht. Familie Bērziņš; Untergetaucht in Riga; Pesla; Frau Šeink; Olivia Viļumson und ihre Familie; Überwintern in Riga; Wieder bei Frau Šeink; Letzte Prüfungen; Die Befreiung; Die Jahre nach dem Krieg (S. 7-296). Der heute in New York lebende David Silberman schrieb 2014 und 2019 in Riga und New York ein Nachwort »Zur Entstehung des Buches« (S. 199-203). Die Historikerin Paula Oppermann (geb. 1988), die als Doktorandin an der Universität Glasgow die lettische faschistische Partei Pērkonkrusts (Donnerkreuz) untersucht, verfasste 2019/20 am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien eine wertvolle Chronologie unter dem Titel »Massenerschiessungen in Rumbula und der Holocaust in Lettland« (S. 207-214). Sie verweist auf die virtuelle Ausstellung des Lettischen Okkupationsmuseums in Riga: (http://okupacijasmuzejs.lv/rumbula/en/), worin auch Frida Michelsons Memoiren zitiert werden. Anmerkungen zu den oben genannten Kapiteln (S. 213-222), drei SW-Abbildungen (Fotos von Frida Michelson, ihrem Mann Mordechai und ihren Söhnen Lev und Daniel) sowie zwei Karten (Riga und Lettland) von Inga Rusmāne im Inneneinband vervollständigen dieses wertvolle Dokument jüdischer Zeitgeschichte. 

Christoph Tepperberg