Unsere höchsten und zugleich erhabensten Feiertage sind Rosch Haschana, die zwei Neujahrstage, und der Jom Kippur, der Versöhnungstag.
In der nachbiblischen jüdischen Überlieferung, in der Mischna der Rabbinen, ist folgende, für uns richtungsweisende Aussage zu lesen: „Am Neujahrstag ziehen alle Erdenbewohner an G’tt wie ein Heer vorbei (um vor Ihm zu Gericht zu stehen).“ Die Mischna fügt, als Verdeutlichung dieser Aussage, einen Psalmvers hinzu: „Der (Herr, der) ihre Herzen gebildet hat, Er achtet auf all ihre Taten“ (Ps. 33:15). Diese zweifache, bildhafte, wie auch theologische Standortsbestimmung legt den Sinn wie auch das Wesen und den Inhalt dieser Tage für uns fest: Der jüdische Mensch vor dem Richterstuhl G’ttes.
“Darum geht es am Neujahrstag; um die menschliche Verantwortung vor G’tt und um die Hoffnung, dass eine vereinte Menschheit die Alleinherrschaft G’ttes anerkennt.“ So formulierte es kurz und prägnant der verstorbene, liberale amerikanische Rabbiner Jakob J. Petuchowski (Feiertage des Herrn, Freiburg, 1984; S.70). Ich muss mir seine einleuchtend schöne Formulierung erst auf der Zunge zergehen lassen, um zu überlegen, ob man dem widersprechen kann: im Grossen und Ganzen stimmt es so, wie Petuchowski den Inhalt und die Bedeutung dieser Feiertage festlegte. Nur — seine Formulierungen lassen diese Tage für mich zu düster wirken. Auch grübelt er zu viel über Paradoxa und Spannungen, die im Judentum zu finden sind. Er stört sich daran, dass die Tora und auch die Propheten die Thematik dieses Festes, der Neujahrstage überhaupt nicht festgelegt hatten, sondern erst die Rabbinen in der nachbiblischen Zeit. Und ferner scheint es ihn, den jüdischen Gelehrten, auch zu irritieren, dass „selbst Juden, die kaum noch Fühlung mit ihrem religiösen Erbe haben, ihre Zugehörigkeit zum Judentum durch Synagogenbesuche gerade (und oft nur) an diesen Feiertagen bekunden.“
Nun, die meisten von uns grübeln weniger und freuen sich dafür umso mehr auf diese Feste, wie auch auf die Begegnungen mit unseren Brüdern und Schwestern – in der Synagoge, vor dem Richterstuhl G’ttes. Ob das auf eine spätere Einwirkung des Chassidismus zurückzuführen ist, weiss ich nicht. Auf jeden Fall hat der Chassidismus, diese letzte Richtung der jüdischen Volksfrömmigkeit, in vielen von uns die Erkenntnis vertieft, dass ohne die grenzenlose Barmherzigkeit des vollkommenen G’ttes die Welt in ihren Grenzen und der Mensch in seiner Beschaffenheit nicht bestehen könnten. Daher harren und hoffen wir - und grübeln weniger. Diese Gesinnung scheint mir von einem kurzen, zweizeiligen Gebetsseufzer aus der ansonsten recht umfangreichen Festtagsgebetsordnung auszustrahlen: „Gedenke unser, O Herr, zum Leben, der Du am Leben Wohlgefallen hast. Trage uns ins Buch des Lebens ein! Um Deinetwillen, Herr des Lebens.“
Über die jüdische Vorstellung zur Wortbildung des „Gerichtstages G’ttes“, den Er an diesen Tagen abhält, möchte ich doch noch einiges ausführen: die Gerechtigkeit gehört zu den biblischen Attributen G’ttes. Diese Gerechtigkeit setzt voraus, dass ein jeder Mensch zu jeder Zeit in jeglichen Angelegenheiten des Lebens einen unwiderruflichen Anspruch auf einen gerechten Prozess habe – vor gerechten, unbestechlichen Richtern. Aufgrund dieser biblischen Prinzipien sagten die Rabbinen: „Auf folgenden drei Grundsätzen beruht die Welt: auf der Wahrhaftigkeit, auf dem Recht und auf dem Frieden“ (Awot 1:18). Das hebräische Wort für „Recht“, „Din“, hat als zusätzliche Bedeutung: der gerechte Spruch eines unparteiischen Gerichtshofes.
Die gerechte Prozessführung setzt voraus, dass neben dem gerechten Richter G’tt womöglich auch ein Ankläger und ein Verteidiger am Richterstuhl ihren Platz einnehmen. Eigentlich bedeutet die „gerechte Prozessführung“ mit dem einzig absolut gerechten Richter G’tt für die jüdische Theologie ein unüberwindbares Hindernis: der strenge, konsequente Monotheismus (der Glaube an die ausschliessliche Existenz eines einzigen G’ttes) kann sich neben G’tt keinen anderen am Richterstuhl vorstellen.
Daher bedienten sich die Rabbinen – um ihre abstrakte Vorstellung von der Gerechtigkeit verständlicher, bildhafter auszudrücken – einer Hypothese. Einer Zwangs- oder Hilfsvorstellung: als ob die Gerechtigkeit im himmlischen Gerichtshof – wie im irdischen – nur mit drei Amtspersonen funktionieren würde: Richter, Ankläger und Verteidiger. Die Rolle des gerechten Richters und Verteidigers übernimmt G’tt. Aber als Ankläger könnte der Allgütige doch nicht amtieren. Daher wurde eine nichtgenannte und nicht näher definierbare Person bereits in der biblischen Hiob-Erzählung kreiert: Der Satan. Das hebräische Wort bedeutet einfach: „Ankläger“. Ohne jegliche Verbindung zum Bösen – zum Diavolo, zum „Teufel“ der Nichtjuden.
Die mittelalterlich-jüdische, popularkabbalistische, das heisst mystische und Moralliteratur entwickelte – ihre Leser zum Guten erziehen wollend – die Vorstellung, „dass man sich vor dem (G’ttlichen) Gericht, das jeden Tag und zu jeder Stunde über dem Menschen angespannt ist, fürchten müsse“. Elijahu de Vida (1518—1592), der mittelalterliche, kabbalistische Autor formuliert in seinem Werk Reschit Chochma über das G’ttesgericht so: „Jeden Tag hängt das Gericht über der Welt, denn die Welt wurde im Gericht erschaffen, und dies ist ihr Fundament. Darum hüte sich der Mensch stets vor der Sünde, denn er weiss nicht, wann das Gericht über ihn beginnt...“ (zitiert nach K. E. Grözinger: Kafka und die Kabbala, Frankfurt, 1992; S. 26) Für uns Juden sind diese Zeugnisse unserer Ahnen die Voraussetzung für ihren redlichen Lebenswandel. Für die Literaturwissenschaft sind sie dagegen einschlägige Beweise dafür, dass der massgebende Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, Franz Kafka, sein Werk Der Prozess – aufgrund ihm zugetragener Kenntnis dieser kab-
balistischen Literatur verfassen konnte. Der Berliner Professor Grözinger beweist dies schlüssig. Ich gestehe aufrichtig, dass viele Juden, die in der Gedankenwelt des Rosch Haschana-Neujahrstages als Jom Hadin — als Gerichtstag G’ttes aufgewachsen sind, die gekonnte Beweisführung des Professors vielleicht gar nicht nötig haben. Und trotzdem es ist wichtig, dass er den background des Prager Juden Franz Kafka wissenschaftlich durchleuchtet.
Unsere Ausführungen über diese erhabenen Tage wären gewiss unvollständig, wenn wir neben der Idee des G’ttlichen Gerichtstages nicht das einzige, greifbare Symbol, den Schofar, das aus Widderhorn geformte Instrument erwähnen würden. Zusammenfassend schrieb der grösste jüdische Gesetzeslehrer und Philosoph des 12. Jahrhunderts Maimonides, der Rambam, über den Schofar: „Obwohl das Schofarblasen ein Gebot der Tora ist (und damit seine Verwendung keinerlei Begründung bedarf), so enthält es doch die folgende Anregung: Wacht auf, Ihr Schlafenden, aus Eurem Schlummer! Prüft Eure Taten, und kehrt bussfertig um!“
Der durchdringende Ton des Schofars soll unser müdes Gewissen wachrütteln. Der Schofar wäre kein jüdisches In-
strument, hätte er das ganze Jahr über nur diese eine Funktion zu erfüllen. Eines Tages – so hoffen wir – wird der Schofar den Anbruch der messianischen Zeit ankündigen. So erfahren wir es vom Propheten Jesaja (Jes. 27:13): „An jenem Tag wird der grosse Schofar geblasen, dann kommen die Verirrten aus Assur nach Hause, und die in Ägypten Verstreuten kehren zurück; sie fallen vor dem Herrn nieder, in Jerusalem, auf dem heiligen Berg!“
Der Traum unserer Propheten war die Heimkehr des jüdischen Volkes in ihre alte Heimat, in das von G’tt verheissene Land. Als Voraussetzung dafür sollte der ewige Frieden für alle Erdenbewohner dienen. Eigentlich gar keine schwer zu bewerkstelligenden Visionen und Erwartungen. Dennoch scheint es, dass wir auf deren Erfüllung und Verwirklichung noch eine lange Zeit warten müssen. Die Hohen Feiertage aber lehren uns, nicht zu verzagen, sondern die Hoffnung zu hegen, dass das, was uns heute noch als unerfüllbar, weil unrealistisch erscheint, eines Tages Wirklichkeit werden kann.