Herbert Brettl: „ ... verzeiht mir, dass ich euch nicht schon früher geschrieben habe.“
Briefe, Dokumente und Berichte zur Geschichte des Burgenlandes (1921–2021).
Halbturn: Eigenverlag Herbert Brettl, 2020.
215 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Euro 25,00.-
Bestellung bei Herbert Brettl, Mobil: 069910343226,
E-Mail: herbert@brettl.at
Nach langem zähen Ringen kam das Burgenland 1921 von Ungarn zu Österreich – ein armes Grenzland ohne Identität, mit ungeheuren politischen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Problemen. Es dauerte Jahrzehnte bis die grössten Schwierigkeiten beseitigt werden konnten: Nach dem Verlust der „natürlichen Hauptstadt“ Ödenburg (Sopron) konnte man sich erst 1925 auf Eisenstadt als Hauptstadt einigen, 1938-1945 kam es zur Aufteilung des jungen Bundeslandes auf die „Gaue Niederdonau und Steiermark“ des NS-Regimes, erst 1948 wurde das seit 1921 bestehende Verkehrsdilemma durch die „Nord-Süd-Verbindung“ gelöst. Nach Wiedererlangung der Selbständigkeit Österreichs (1955) trat das Burgenland endlich aus dem Schatten der Geschichte: Die Versorgung der Ungarnflüchtlinge 1956/57 fand internationale Beachtung und das Ende des Eisernen Vorhangs durch die Grenzöffnung 1989 bei Klingenbach hatte eine weltgeschichtliche Dimension. Heute ist das Burgenland in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht erfolgreich, hat längst mit den anderen Bundesländern gleichgezogen; und so ist aus dem einst armen jüngsten Bundesland der Republik Österreich am Ende doch noch eine Erfolgsgeschichte geworden.
Herbert Brettl präsentiert eine ansprechende Bildchronik zum Jubiläum 100 Jahre Burgenland. Der Titel des Buches „ ... verzeiht mir, dass ich euch nicht schon früher geschrieben habe.“ bezieht sich auf die zahllosen von Burgenländer/innen geschriebenen und versendeten Briefe. Mithilfe mehrerer Personen und Institutionen konnte Herbert Brettl zahlreiche Briefe, Telegramme, Telefondepeschen, Textnachrichten und Einträge in sozialen Medien für seine Publikation heranziehen. In etwa 230 Briefen, Berichten und anderen Dokumenten, verfasst von Privatpersonen, Behörden und Institutionen, vor allem aber durch eindrucksvolle Farb- und Schwarzweissfotos wird individuelle Alltagsgeschichte dokumentiert, in einen regionalen Kontext gestellt und dabei die Wirkung von politischen und sozialen Veränderungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen erklärt. Auf jeweils einer Doppelseite werden zu einzelnen Jahren von 1921 bis 2020 Dokumente, Fotos und Transkripte präsentiert, diese in handlichen Leseportionen kommentiert.
Die Mehrzahl der präsentierten Dokumente beschäftigt sich mit dem schwierigen burgenländischen Alltag: Not, Elend, Armut, Schmuggel, Auswanderung nach Amerika (Chicago), prekäre Schul-, Wohn- und Verkehrsverhältnisse, dann Kirchen, Streit politischer Parteien, NS-Terror, Krieg und Besatzung (S. 40-563, 144, 148, 160) und der Eiserne Vorhang. Es gibt Texte zur burgenländischen Küche, Weinbau, Sport, Kino und Fernsehen, Kultur, Raufereien bei Kirtag und Fussball. Ebenso wird die sprachliche, religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt der Volksgruppen beleuchtet sowie die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen reflektiert: Landwirtschaft, Landflucht, Modernisierung und die Popszene, Europa, Flüchtlingshilfe, Abschiebung und Asyl, Ortstafeln, Tschernobyl, Gewerbe- und Schulsterben, das Ende der Nahversorgung und die COVID-Pandemie. Schliesslich werden der wirtschaftlich-soziale Aufschwung, Lebensqualität, neues Selbstverständnis, Grenzöffnung und Einkaufswut, Tier- und Umweltschutz, Tourismus, Pendler und Saisonarbeit thematisiert.
Die burgenländischen Roma sind ausführlich dokumentiert (S. 20, 40, 48, 119, 139, 155). Speziell zum Judentum finden sich folgende Dokumente: 1931 Rabbiner gesucht (S. 27), 1942 Der Reichsstatthalter als „Ariseur“ (S. 49), 1944 Endphasenverbrechen beim Südostwallbau (S. 53), 1965 Folgen der KZ-Haft (S. 95), 1970 Ein Stück Burgenland in Jerusalem (S. 105) und 1990 Wo sind die Gräber beim Kreuzstadl (S. 144). Ein Bildnachweis (S. 209-11), eine Liste von Mithelfenden (S. 212-213) und ein Ortsregister (S. 214-215) ergänzen diese gelungene Bildchronik.
Christoph Tepperberg