Mödling verfügte bis 1938 über ein reiches jüdisches Leben und in der Mödlinger Kultusgemeinde fest verankerte religiöse Strukturen. Zu den Jugendorganisationen, die in der Stadt tätig waren, zählte „Blau-Weiss“, eine zionistische Gruppe, die sich als Teil der jugendbündischen Wanderbewegung verstand. Als langjähriger Leiter wirkte der Student Rudolph Seiden, der 1935 mit der Erfindung des heute allgegenwärtigen Sicherheitsglases einen ganzen Industriezweig revolutionierte.
Seidens familiärer Hintergrund war ebenfalls mit der Mödlinger Geschichte verbunden: Als Geburtsort ist Langenwang in der Steiermark angegeben, wo sein Vater Bernhard Seiden (1880–1955) für die Südbahngesellschaft tätig war. Der am 13. August 1900 Geborene wuchs als ältestes von vier Kindern nach Aufenthalten in Neunkirchen und Kärnten ab 1906 in Mödling auf und absolvierte hier seine Schulbildung. Mit gleichgesinnten Mitschülern gründete er 1917 eine „Blau-Weiss“ (später hebr. T’chelet-Lawan) Wandergruppe.
Antisemitische Durchdringung der Jugend- und Wanderbewegung
Die Mödlinger Jugendlichen stellten sich damit in die Pfadfinder- und Wandervogel-Bewegung, die von Naturromantisierung und dem gemeinsamen Sport- und Freizeiterlebnis geprägt war. Diese Faktoren, die auch christliche, völkische oder sozialistische Jugendorganisationen in ihre Arbeit einbauten, wurden bei „Blau-Weiss“ unter einen „gegenkulturellen“, spezifisch jüdischen Gehalt gestellt, der als Antwort auf den in den nicht-jüdischen Gruppen grassierenden Antisemitismus formuliert wurde. Der Wandervogel war 1897 in Berlin aus einer naturbegeisterten, romantischen Stimmung entstanden und pflegte Wandern mit Selbstverköstigung, Singen und körperliche Betätigung in der freien Natur. Die seit 1911 auch in Österreich vertretene Bewegung geriet rasch in ein nationalistisches Fahrwasser. Knapp vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde ein Beschluss über die Nichtaufnahme jüdischer Jugendlicher und Jugendgruppen gefasst, wobei eine bereits seit Längerem inoffizielle Praxis festgeschrieben wurde. Der Wanderbund „Blau-Weiss“ war 1913 beinahe gleichzeitig in Deutschland und Österreich entstanden und erlebte aufgrund der Ausgrenzungsstrategie des Wandervogels starken Auftrieb. Der Aufruf zur Gruppengründung in Wien vom April 1913 trug die Unterschriften von Josef Popper-Lynkeus (1838–1921), Felix Salten (1869–1945) oder Sigmund Freud (1856–1939).Darin hiess es:
„In der Grossstadt lauern für die jüdische Jugend Versuchungen aller Art und der Strassenlärm droht die innere Stimme zu übertönen. Sie sieht nichts als das Jagen der Menschen, die vor Hast ihr Glück fast versäumen […] Wir wollen sie hinausführen in die freie Natur, in sonnige Landschaften, damit die Sonne auch jüdische Kinderherzen wieder erwärme. Der jüdischen Jugend soll die Sehnsucht nach der reinen Natur eingepflanzt werden, sie bedeutet das innere Glück, sie lässt Männer und Frauen erwachsen, deren ein Volk bedarf, das zum Lichte will.“
Die Selbstvergewisserung im Judentum stand aber einer weitgehend imitatorischen Übernahme der Ideologie und des Erscheinungsbildes – abzüglich der antisemitischen Elemente – nicht entgegen. Otto Schick, ein Funktionär der bald auch in Böhmen vertretenen Bewegung, schrieb 1914 in den Blau-Weiss-Blättern, dem Organ der Bewegung:
„Wir jungen Juden wollen uns stets inniger mit Natur und Natürlichkeit befreunden, bis wir wieder tief verwurzelt sind mit Mutter Erde. Und dem Lichte wollen wir zustreben, bis alle Spuren niederen Sinnes, alle Male finsterer Unfreiheit von uns gewichen sind. Und von Jahr zu Jahr wird er höher ragen, der stolze Baum jüdischer Jugend.“
Rudolph Seiden. Porträtaufnahme. LBI New York.
In den Bünden bildete sich bald eine feste Hierarchie heraus: Probewanderer, Wanderer mit und ohne „Blau-Weiss“-Nadel, Hilfsführer, Führer und Oberführer. Die Verleihung der Nadel war an gewisse Voraussetzungen geknüpft, die meistens in einer grösseren Anzahl absolvierter Wanderungen bestand. Für die Aufnahme in die Vereinigung und die Verleihung der Nadel wurde ein gewisses Zeremoniell entwickelt und im letzten Friedenssommer das allgemeine „Du“ in der Organisation eingeführt. Dennoch bestand eine gewisse Schranke zwischen den zumeist jüngeren Wanderern und den Führern, und auch über die Ziele der Jugendarbeit bestanden wenig klare Vorstellungen:
„Was der ‚Blau-Weiss‘ ist, kann man nicht sagen, man muss es fühlen“, und auch über den „rechten ‚Blau-Weiss‘-Geist“ als erwünschte Grundhaltung bestand ausser der Forderung nach seiner Einhaltung kein eindeutiges Bild.
Victor Bauer erinnerte sich 1964 an seine im Sommer 1914 gegründete „Blau-Weiss“-Gruppe in Teplitz-Schönau (Teplice) – Erinnerungen, die durchaus auf Mödling übertragbar sind:
„Ich konnte miterleben, wie aus einer ganz kleinen Anfängergruppe von vielleicht fünfzehn oder zwanzig Leuten später Hunderte junger Leute sich zusammenfanden und in gedrängten Gruppen die Umgebung, und zwar die sehr schöne Umgebung meiner ehemaligen Heimatstadt durchwanderten. Die Gruppen wurden immer grösser, ich möchte hier aber ausdrücklich konstatieren, dass wir nichts anderes taten und nichts anderes wollten als, in kleinen Gruppen zusammengefasst, die Naturschönheiten meiner Heimat zu erforschen und dass wir stundenlang durch die Wälder des Erzgebirges gewandert sind, ohne dass bei diesen Wanderungen irgendwelche Probleme oder Fragen anderer als rein freundschaftlicher Natur dort erörtert worden wären.“
1917 Gründer der jüdischen „Blau-Weiss“-Wanderbewegung in Mödling
Die am Gymnasium gebildete „Blau-Weiss“-Organisation blieb unter Seidens Leitung, auch als dieser nach der Matura die Universität Wien bezog. Nach wenigen Semestern Jus wechselte er allerdings an die Technische Hochschule und immatrikulierte sich im Fach Chemie. Am 8. September 1919 wurde im Rahmen eines Bundestages die Mödlinger Ortsgruppe in die Bundesorganisation aufgenommen und Seiden in die deutsch-österreichische Bundesleitung von „Blau-Weiss“ gewählt. An der Hochschule betätigte sich Seiden im jüdisch-nationalen akademischen Verein Theodor Herzl, dem er auch über den Studienabschluss hinaus als Alter Herr verbunden blieb. Mit Ludwig Rosenhek (1884–1964), einem Mödlinger Rechtsanwalt, rief Seiden eine Zionistische Ortsgruppe Mödling als politische Plattform ins Leben. Damit gelang es, die oft assimilierten Eltern der in „Blau-Weiss“ organisierten Kinder für die Ideenwelt Theodor Herzls (1860–1904) zu interessieren und die Vision einer „nationalen Heimstätte für die Juden“ anzusprechen. Rosenhek war Alter Herr der 1883 gegründeten Wiener jüdischen Studentenverbindung Kadimah, die sich als zionistische Elite verstand. Zu ihren Mitgliedern zählte auch der Librettist, Conférencier und Autor Fritz Löhner-Beda (1883–1942), der über Vermittlung seines Bundesbruders für einen Purim-Abend der Mödlinger „Blau-Weiss“ im Fasching 1920 gewonnen werden konnte.
Die Mödlinger Synagoge in der Enzersdorfer Strasse 6. Im Nebengebäude hatte „Blau-Weiss“ seinen Sitz. Sammlung des Verfassers.
Zionistische Ortsgruppe Mödling
Mit Rosenhek organisierte Seiden in Mödling am 14. August 1921 einen Landestag der zionistischen Ortsgruppen Österreichs und engagierte sich auch im Jüdischen Nationalfonds. 1923 schloss Seiden sein Studium ab und schied damit aus der aktiven Jugendarbeit aus. Die „Blau-Weiss“-Ortsgruppe dankte ihm in einem ausführlichen Schreiben auf eigenem Briefpapier, das als Adresse den Amtssitz der Kultusgemeinde in der Enzersdorfer Strasse 6 ausweist. Gezeichnet sind die Zeilen von Robert Neurath, dem Sohn des Kultusvorstehers Josef Neurath, und der 1902 geborenen Helene Diamant (verehelichte Eckstein), der Tochter des Kaufhausbesitzers und stellvertretenden Vorstehers der Kultusgemeinde Ferdinand Diamant (Hauptstrasse 25), dessen Spur sich im Lager Theresienstadt verlor. Nach Studienabschluss heiratete Seiden die Wienerin Juliette Niswitzki, mit der er im Haus Steinfelderstrasse 28 lebte. In dieser Zeit verfolgte Seiden ein publizistisches Projekt: die Herausgabe der Schriftenreihe Judentum-Judenvolk-Judenland, die 1924 im angesehenen Jüdischen Buch- und Kunstverlag Max Hickl Brünn-Wien erschien. Schon am Titel einer Ausgabe Pro Zion! wird die Richtung deutlich, die auch vom Mödlinger Arnold Schönberg (1874–1951) mit einem Beitrag unterstützt wurde. Von 1925 bis 1926 hielt sich das Paar in Haifa auf, wo der Sohn Uriel geboren wurde. Nach der Rückkehr trat Seiden in die Redaktion der Neuen Freien Presse als Fachredakteur für Wirtschafts- und Technikfragen ein und betätigte sich bald als arrivierter Fachautor für chemische Journals, aber auch im Rahmen der Erwachsenenbildung mit populärwissenschaftlichen Rundfunkvorträgen für die RAVAG, den Vorläufer des ORF. In der zionistischen Organisation verlegte sich Seidens Schwerpunkt von der Jugendarbeit hin zur Einwanderungshilfe nach Palästina, der wirtschaftlichen Fundierung einer Palästina Aufbau-Gesellschaft.
Patent für thermische Sicherheitsglaserzeugung
Seidens Ruf in der chemischen Fachwelt führte zu einer Einladung in die Vereinigten Staaten, der er im November 1935 mit seiner Frau und den mittlerweile zwei Söhnen Folge leistete. In dieses Jahr fällt auch die Erteilung einer Patentschrift zur Herstellung von gehärtetem Sicherheitsglas durch Erhitzung, die am Ende längerer Forschungen stand. Das nach Seidens Verfahren hergestellte Glas ist physikalisch und thermisch stärker belastbar als normales Glas. Damit war die Voraussetzung für den Einsatz von Glasflächen in der Architektur geschaffen. Die stärkere Kontraktion der inneren Schicht während der Herstellung bewirkt Druckspannungen in der Oberfläche des Glases, die durch Zugspannungen im Glaskörper ausgeglichen werden. Damit Glas als gehärtet angesehen werden kann, sollte diese Druckspannung auf der Glasoberfläche mindestens 69 Megapascal (10.000 psi) betragen. Damit es als Sicherheitsglas betrachtet werden kann, sollte die Oberflächendruckspannung 100 Megapascal (15.000 psi) überschreiten. Je grösser die Oberflächenspannung ist, desto kleiner sind die Glaspartikel und damit auch die Verletzungsgefahr, wenn das Glas zu Bruch geht. Allerdings widmete sich Seiden in den U.S.A. nicht weiter der Glaserzeugung, sondern entwickelte einen Erschliessungsplan für Alaska, das als Siedlungsgebiet für die gefährdeten europäischen Juden urbar gemacht werden sollte.
Trotz anfänglichen Interesses, das bei der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt hervorgerufen werden konnte, blieb das Vorhaben im Projektstadium stecken. Seiden nahm 1937 eine Stelle bei den Haver-Lockart Laboratories in Kansas City an, wo er zum Thema Futtermittelherstellung forschte.
Wenig später vollzog sich in Perchtoldsdorf das letzte Kapitel zionistischer Jugendarbeit im Wiener Südraum. Am 1. November 1937 zog eine Abordnung der Jugendgruppe Herzl des Bundes der Judenstaatszionisten Österreichs – wie die Mödlinger Zirenu-Makkabi-Hazair in gewisser Weise eine Nachfolgeorganisation des in den Jahren 1925/26 eingeschlafenen „Blau-Weiss“ – auf die Perchtoldsdorfer Heide. Gegen 18.30 Uhr versuchten die rund zwanzig Burschen, ein Lagerfeuer zu entzünden. Dabei wurden sie von der Gendarmerie ertappt, der minderjährige Leiter der Gruppe wurde festgenommen und verhört, obwohl es im Polizeibericht heisst, „dass ein konkreter Fall von Feuersgefahr gegenüber einem Objekte nicht bestand“. Über den in Wien wohnhaften Gymnasiasten wurde durch das Bürgermeisteramt eine Geldstrafe, alternativ 12 Stunden Arrest, verhängt, wobei der Vollzug der Strafe gegen den jüdischen Jugendlichen unter Amtshilfe bis in den August 1938 betrieben und erst dann aufgegeben wurde.
Das Emblem der zionistischen Jugendorganisation „Blau-Weiss“. Sammlung des Verfassers.
Nach der Übernahme von Haver-Lockart durch das kalifornische Unternehmen Cutter stieg Seiden dort zum Vizepräsidenten für Forschung und Produktion auf. 1956 kehrte der 1941 in die U.S.A. Eingebürgerte für kurze Zeit nach Wien zurück, um sein seit der Vorkriegszeit ruhendes Promotionsstudium abzuschliessen. Zusätzlich bekleidete er mehrere wissenschaftliche Funktionen im American Institute of Chemists, der American Association for die Advancement of Science und der American Chemists Society.
Quellen und Literatur:
Nachlass Rudolph Seiden Collection im Leo Baeck Institute, New York
National Library of Israel, Jerusalem, Jewish Youth Movements in Czechoslovakia between the Two World Wars. Blau-Weiss Youth Movement in Austria.
Interview Victor Bauer (16.12.1964), URL: https://www.nli.org.il/en/audio/NNL_ALEPH004420196/NLI
Roland Burger, Franz M. Rinner, Franz R. Strobl: Ausgelöscht. Vom Leben der Juden in Mödling. (Mödling-Wien 1988)
Gregor Gatscher-Riedl, Ein Mödlinger Rechtsanwalt als Chronist des Zionismus. In: Heimatkundliche Beilage zum Amtsblatt der Bezirkshauptmannschaft Mödling, 54 (2019) 4, 25-27
Ders., Jüdisches Leben in Perchtoldsdorf von den Anfängen im Mittelalter bis zur Auslöschung in der Schoah, (=Schriften des Archivs der Marktgemeinde Perchtoldsdorf, Bd. 4, Perchtoldsdorf 2008)
Richard Karpe, „Bar Kochba“ und der Wanderbund „Blau-Weiss“. Die Entstehung des jüdischen Wanderbundes „Blau-Weiss“ in Böhmen und seine Entwicklung während des ersten Weltkriegs. In: Mitteilungen des Altherrenverbandes des Vereins jüdischer Hochschüler „Bar Kochba“ in Prag und Spolek židovských akademiků „Theodor Herzl“ v Praze, in Israel, Tel Aviv o. J.