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Ein Jahrhundertprozess Irving vs. Lipstadt, London, High Court, 2000

Fabian Brändle

Inhalt

David Irving, geboren im Jahre 1938 in der englischen Grafschaft Essex, ist ein Autodidakt und Selfmademan, kein an Universitäten ausgebildeter Historiker. Er besuchte zwar höhere Schulen, brach seine Studien jedoch ab, um in Deutschland als Industriearbeiter zu wirken, ehe er sich der Zeit des Nationalsozialismus (1933 – 1945) zuwandte. Irvings zahlreiche Bücher, unter anderem über Goebbels und Himmler sowie die Kriegsführung aus NS-deutscher Sicht, wurden zumindest in den U.S.A. und in Grossbritannien auch unter Experten und Militärhistorikern wie John Keegan lange Zeit diskutiert, obgleich ihre mehr als zugespitzten Thesen auf Widerspruch der Fachhistoriker stiessen. 

David Irving verfügt über erstaunliche Detailkenntnisse und stöberte in Deutschland oft unbekannte Dokumente und Quellen auf, die er dann genussvoll präsentierte. Aufgrund des tendenziösen Leuchter-Reports eines ehemaligen „Spezialisten für Hinrichtungen“ bezweifelte der Autodidakt die Existenz von Gaskammern in Auschwitz. Jüdinnen und Juden im Lager seien vielmehr dem grassierenden Typhus oder anderen Seuchen zum Opfer gefallen, zudem habe der Führer Adolf Hitler kaum Kenntnis gehabt von jenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Irving in erster Linie den ruchlosen Helfern Himmler und Goebbels anlastete. Hitler habe persönlich sogar Juden beschützt, so der Hitler-Verehrer Irving. In den Augen seiner zahlreichen Gegner innerhalb und ausserhalb der Universitäten war David Irving zum prominenten Holocaust-Leugner, zum Antisemiten und zum Rechtsradikalen geworden. In diesen Kreisen bewegte er sich auch, war befreundet mit dem deutsch-kanadischen Verleger Ernst Zündel, in den dortigen Verlagen verkaufte er seine vielen Bücher, lange Zeit erfolgreich.

Gegnerin Irvings im Londoner Verleumdungs-Prozess des Jahres 2000, der vor allem die angelsächsische Welt aufwühlte („Holocaust vor Gericht“), war die von Irving geklagte amerikanische Professorin und NS-Spezialistin Deborah Lipstadt sowie ihr Verlag. Lipstadt hatte, wie andere Gelehrte, Verlage und Autoren auch, Irving frontal angegriffen. Sie verweigerte die Aussage, liess sich am High Court durch zwei brillante Anwälte vertreten und international bekannte und geachtete Experten wie den Deutschen Peter Longerich, den Engländer Christopher Browning sowie den englischen Historiker Richard J. Evans auftreten, der in einer umfangreichen, akribischen, mehr als 700-seitigen Expertise Irvings irrwitzige Argumentationen im Detail, bis hinein in die abgelegensten Fussnoten, regelrecht auseinandernahm und dem rechtsextremen Autodidakten Böswilligkeit und strategisches Handeln nachwies. Zu dieser Einsicht waren manche Laufmeter Akten nötig, die von eifrigen Helferinnen vor Ort herbeigeschafft wurden. 

Irvings (ältere) Bücher sind zwar einerseits quellengesättigt und durchaus gut geschrieben, aber andererseits einseitig und oftmals die Tatsachen um 180 Grad verdrehend. Das Perfide an ihnen ist, dass sie Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit vortäuschen und somit dem Laien auf den ersten Blick glaubhaft erscheinen. 

Weitere Experten, wie der niederländische Kulturwissenschaftler und Architekturexperte Robert Jan van Pelt, wiesen die Existenz der Gaskammern und Krematorien in gewissen deutschen Konzentrationslagern schlüssig nach. David Irving versuchte zwar, die von der Verteidigung vorgebrachten Experten zu löchern und mit Fangfragen in die Enge zu treiben, diese blieben aber in der Regel stilsicher und souverän. Vor allem Richard J. Evans zeigte sich Irving mehr als gewachsen. Das britische Recht bei Verleumdungsklagen sieht die Beweislast beim Angeklagten, dies machte die Sache für Lippstadt nicht einfacher. Zum Glück wurde die Historikerin finanziell unterstützt und durch historisch bewanderte Anwälte vertreten. Die ungleiche Ausstattung an Mitteln wurde von David Irving, der keinen Anwalt hatte, immer wieder ins Feld geführt.

David Irving war vor Gericht zwar nervös mit oft hochrotem Kopf und gegenüber Richter Gray servil, zeigte aber immer wieder seine insgesamt beeindruckende Sachkenntnis und jammerte zudem, er werde von der Gesellschaft ärger behandelt als ein Pädophiler, sei gleich einem Aussätzigen, werde bedroht und drangsaliert. Er habe nicht nur seinen Ruf, sondern auch weite Teile seiner Leserschaft verloren. Irving wollte die grosse Bühne des Gerichtssaals samt seinen vielen Reportern für einen denkwürdigen Auftritt nützen, scheiterte aber mehr oder weniger kläglich, auch dank der Interventionen des Richters. Deborah Lipstadt hingegen, die jegliche Aussage verweigerte, bekam schliesslich in sämtlichen Belangen Recht und wurde vom Vorwurf der Verleumdung freigesprochen.

Nachlese:
Menasse, Eva: Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving, Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2017.