Christoph Tepperberg
Christine Mann / Erwin Mann: Die Wiener konfessionellen Schulen und ihr Schicksal 1938-1945. Eine Bestandsaufnahme der katholischen, evangelischen und jüdischen Privatschulen.
LIT Verlag (= Religion & Bildung, hrsg. vom Verein der Freunde religiöser Bildung, Bd. 5), Wien 2021
884 S., zahlreiche Abb., Euro 84,90.-
Printausgabe broschiert, auch als eBook verfügbar.
ISBN: 978-3-643-51078-5
Die in der Wiener Erzdiözese verankerten Autoren Christine und Erwin Mann publizieren seit vielen Jahren zum Themenkreis Kirche und Schule, Religion und Bildung, u. a. »Die große Geschichte des Kleinen Seminars der Erzdiözese Wien« (Wiener Domverlag 2006) oder »Das Curhaus am Wiener Stephansplatz. Zur Geschichte einer jahrhundertealten Bildungsstätte« (LIT Verlag 2020). Mit dem vorliegenden Band liefern die beiden nunmehr einen massgeblichen Beitrag zur österreichischen Schulgeschichte. Der Inhalt dieser umfassenden, ins Detail gehenden Studie kann in einer knappen Rezension kaum hinreichend gewürdigt werden. Der voluminöse, umfassend recherchierte Band beginnt mit einer ausführlichen Einleitung: »Gemeinsame Eckpunkte der Vorgeschichte« (S. 15-84). Darauf folgen die konfessionsspezifischen Abschnitte: das Wiener katholische Schulwesen (S. 85-552), das Wiener evangelische Schulwesen (S. 553-630), das Wiener jüdische Schulwesen (S. 631-810) und eine ausführliche Zusammenfassung unter dem Titel »Der Versuch einer Zusammenschau – zwischen Nähe und Distanz« (S. 811-860). Literaturliste und Bildnachweis sowie Personenregister und Abkürzungsverzeichnis ergänzen diese beeindruckende Forschungsarbeit (S. 861-880).
Es gelangen nicht nur institutionen- und ereignisgeschichtliche Inhalte zur Darstellung, sondern auch Einzelschicksale von »Helden« und »Verzagten«. Bevorzugung und Benachteiligung durch die NS-Machthaber kommen als wesentlicher Kontext zur Sprache. Die mangelnde Solidarität unter den privaten Schulhaltern, insbesondere gegenüber dem nachhaltig betroffenen jüdischen Schulwesen, bleibt ein dunkler Punkt des konfessionellen Schulwesens. Erstmals veröffentlichte Quellen geben Einblick in jenes spannende Kapitel Wiener Schulgeschichte.
Der umfangreichste Abschnitt des Bandes ist naheliegender Weise dem katholischen Schulwesen gewidmet. Für die NS-Ideologie war vor allem der Katholizismus mit seinen Ordensschulen der grosse und zugleich bewunderte Konterpart: Die Nationalsozialisten nannten ihre Kaderschmieden gerne selbst »Ordensschulen« (S. 33). Das NS-Regime liess von Anfang an keinen Zweifel daran, dass der Religionsunterricht einer Erziehung und Bildung der Jugend im Sinne der NS-Ideologie im Wege stand. Anders als in Deutschland gab es in Österreich nach dem »Anschluss« kaum Widerstand. Während Hitler in Deutschland mehrere Jahre für die Auflösung des katholisch-konfessionellen Schulwesens benötigte, war in Österreich von Juli bis Oktober 1938 alles erledigt. Die entsprechenden Gesetze waren längst ausgearbeitet, mussten nur noch in den österreichischen Rechtsbestand übernommen werden (S. 41-56). Während die katholischen Privatschulen 1938 ihre Pforten schliessen mussten, standen viele Schulverantwortliche der evangelischen Kirche Deutschland, als dem »Mutterland der Reformation«, positiv gegenüber. Sie übergaben noch Ende des Schuljahres 1937/38 den neuen Machthabern alle ihre Schulen, die, meist noch ein Jahr als öffentliche Schulen weitergeführt, dann aber ebenfalls geschlossen wurden.
Der Abschnitt über das Wiener jüdische Schulwesen (S. 631-810) beginnt einleitend mit den ältesten jüdischen Siedlungen Wiens, der Rechtsstellung der Juden, ersten Gleichstellungsmassnahmen unter Joseph II. sowie den Emanzipationen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (S. 633-692). Daran schliesst das zentrale Kapitel »1938-1945: Jüdisches Schulwesen und jüdische Bildungsinitiativen« (S. 692-804). Doch selbst dieses beschränkt sich nicht auf den Zeitraum 1938-1945, sondern beschäftigt sich auch mit den Entwicklungen ab dem späten 19. Jahrhundert. Wir erfahren Details über die verschiedenen Schultypen, wie Vollschulen, Talmud Tora-Schulen, Mädchenschulen, berufsbildende Schulen, Institutionen zur Ausbildung von Rabbinern und Religionslehrern, über die vom Nazi-Regime oktroyierten »Zwangsschulen« bis hin zum Beschulungsverbot (S. 767ff.) und die aus der Verzweiflung geborenen »Notschulen« (S. 787ff.). Das jüdische Schulwesen in Österreich zeichnete sich durch seine Vielfalt und Buntheit aus. Liberale Juden schickten ihre Kinder um deren Integration willen meist in öffentliche oder anderskonfessionelle, vor allem katholische Schulen. Die orthodoxen Gemeinden und Vereine hingegen setzten auf traditionelle Erziehung in jüdischen Schulen. Doch herrschte darüber die einigende Gewissheit, dass Armut nur durch Bildung überwunden werden könne. Beim den jüdischen Schulen der NS-Zeit war die Situation eine völlig andere als bei christlich-konfessionellen Schulen. Es stand nicht die neue Ideologie im Vordergrund, der totalitäre Zugriff richtete sich nicht nur auf die Aussonderung, sondern auf die Auslöschung einer gesamten heranwachsenden Generation. Jüdische Kinder wurde zunächst aus den öffentlichen Schulen ausgeschult, in eigenen »Judenschulen« gesammelt und nur noch zu niedriger Bildung zugelassen, ab 1942 schliesslich mit Unterrichtsverbot belegt. Zu guter Letzt wurde der Kultusgemeinde auferlegt, den letzten noch gestatteten Unterricht an »Judenschulen« selbst zu finanzieren. Der Abschnitt schliesst mit einem positiven Ausblick auf die Neuanfänge des jüdischen Schulwesens ab 1945 (S. 805-810).
Der vorliegende Band bietet erstmals eine umfangreiche und zugleich zusammenfassende Darstellung des Wiener jüdischen Schulwesens. Künftig wird niemand, der sich mit dem Thema »Schule während der NZ-Zeit« beschäftigt, an diesem Werk vorbeigehen können.