Anton Philapitsch
Joseph Melzer: Ich habe neun Leben gelebt. Eine jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert. Westend Verlag, Frankfurt/Main 2021
336 S., gebunden, Euro 24,68.-
ISBN 783864893063
ISBN-10: 864893062
ISBN-13: 978-3864893063
Vergessen sie den Klappentext des Buches! Es verbirgt sich hinter dem Roman mehr, viel mehr! Eine heile Kindheit im Schtetl, wo Joseph Melzer selbstbewusst und frei aufwächst. Zwar gibt gab es Vorurteile zwischen Juden und Nichtjuden, aber weder Hass noch Verachtung. Das Auf und Ab in den verschiedensten politischen und kulturellen Strömungen werden das Leben nach der Panikflucht des Siebenjährigen aus Galizien und einem improvisierten Neubeginn in Berlin dominieren. Melzer bindet sich an sozialistische Ideen, findet sich in den intellektuellen Kreisen und der literarischen Szene der Weimarer Republik wieder. Kontakte in der Jugendszene schwemmen ihn auch nach Frankreich und Italien, wo er sich zwischen NS-Propaganda, KP-Parolen, sogar in jüdischen Gruppen mit nationalen Ideen bewegt. Er wandert aus, meldet sich in einem Kibbutz, wo er nach Ansicht des Autors eine Zweckgemeinschaft von Idealisten vorfindet. Die Ausbeutung der jungen Immigranten in Palästina nach kapitalistischen Mustern, interner Neid und Missgunst lassen ihn über Umwege zurück nach Europa fliehen. Er wird Buchhändler. In Paris verbringt er mit Intellektuellen und Emigranten aus Deutschland einen unbeschwerten Lebensabschnitt. Seine Familie flieht nach Palästina, er ins Chaos nach Warschau, in die UdSSR, dann die Deportation in den Gulag. Immer wieder trifft er auf seinem Weg auf Juden, die in kleinen Seilschaften ein gemeinsames Überleben schaffen. Das Kriegsende erlebt er in Usbekistan, es folgen die Familiengründung und, mehr nolens als volens, Überlegungen zur Auswanderung nach Israel, wo er sich nicht zurecht findet. 1958 kehrt er nach Deutschland zurück, gründet einen Verlag, wird wieder Buchhändler. Politische Skandale, Martin Buber und Fernando Arrabal queren seinen Weg, bis er sich aus dem operativen Leben des Buchhandels zurückzieht.
Was hat ihn geprägt? Ihn, den Juden aus dem Schtetl, hineingeboren in den Zerfall der Alten Welt: das Judentum als visuelle Wahrnehmung neben den rabbinischen talmudischen Schriften, als Quelle von Solidarität, von Menschenwürde, von Idealen vielfältiger Existenzen. Wir erfahren sein Umfeld im pulsierenden (Über)-Leben, mit Lügen, die Zeit des politischen Liberalismus, reaktionärer konservativer Kräfte, Krieg, Vernichtung, Auferstehungen, neben chassidischer Mystik und messianischen Phantastereien. Er wird Verleger und wird dabei, wie er sagt: benutzt, missbraucht, selten verstanden oder geliebt.
Als kritischer Antizionist bezieht er Stellung zu Formen des Judentums, dessen Existenz er vom europäischen Nationalismus beeinflusst bzw. geprägt sieht. Judentum ist für ihn eine verbindende Idee abseits territorialer Ansprüche.