Ausgabe

Wie eine Morgenländische Pflanze

Michael Halévy

Als 1842 ein gewaltiger Brand Hamburg in Schutt und Asche legt, wird der aus Amsterdam nach Hamburg berufene junge Kantor Jehuda de Mordechai Cassuto unter Lebensgefahr in die erst 1834 errichtete Portugiesensynagoge am Alten Wall 50 (Hofgebäude an der Schlikutsbrücke) eilen, um die sechzehn bis achtzehn Torarollen zu retten, die traditionsgemäss in der Synagoge verwahrt werden. Auch bemüht er sich umgehend mit Hilfe eines Hilfskomitees um Unterstützung bei den dreizehn portugiesischen Schwestergemeinden in der Alten und Neuen Welt, von denen Paris 600 Frs, Bordeaux 100 Frs und Bayonne 150 Frs für einen Neubau der niedergebrannten Synagoge in der Neustadt beisteuern.1 Es wird auch unter den Hamburger und Altonaer Mitgliedern wöchentlich für einen Neubau gesammelt und die Beiträge werden sorgsam in ein Kassenbuch eingetragen. 
 

Inhalt

h132_41.jpg

Abb. 3: Innenraum der portugiesischen Synagoge Marcusstrasse in Hamburg. Fotos: Archiv Halévy, mit freundlicher Genehmigung.

 

Über das Innere der zerstörten Synagoge, von der keine Zeichnung überliefert ist, schreibt die Allgemeine Zeitung des Judenthums 1838: 

„Schon beim Eintritt in eine Esnoga fällt hinsichtlich der Bauart viel von unseren Einrichtungen Abweichendes in die Augen. Zuerst die heilige Lade ohne Vorhang – dieser ist inwendig – und der Raum vor derselben völlig frei, ohne Canukah-Candelaber oder Hadlaka und andere Leuchter, namentlich aber ohne Stand für den Vorsänger. Letzterer steht nämlich während aller Gebete nur auf der Tribüne, Tebá genannt, was wir Almanbar nennen. Diese Tebá ist aber nicht wie bei uns, genau in der Mitte, sondern mehr rückwärts placirt und verhältnismässig sehr gross und tief, nach hinten fast bis an die Westwand reichend. Die Bänke, stehende Betpulte sind nicht vorhanden – sind nicht parallel gegen Osten, sondern mit den Wänden gleichlaufend, rings herum gegen den in der Mitte stehenden Vorsänger, und er wendet sich beim Ablesen des Segens rechts und links zu dem Publikum, was bei unserer Einrichtung ganz bedeutungslos ist“.2
Zehn Jahre später beschliesst die Gemeinde, die in der Zwischenzeit ein Provisorium in der Synagoge des Tempelverbandes zunächst im zweiten Obergeschoss eines Speichers am Neuen Steinweg und später in der Brunnenstrasse gefunden hatte, einen kleineren Neubau. 

Am 25. November 1851 entscheidet der Vorstand, die 7.500 Mark Banko, die der verstorbene Bürgermeister Christian Daniel Benecke der Portugiesengemeinde vermacht hatte, für den Synagogenbau zu verwenden. Der Nachlassverwalter lehnt die Zuwendung jedoch ab, da im Testament das Legat ausdrücklich für eine wohltätige Stiftung der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde bestimmt war. Ein Jahr später wird am 10. April 1852 das Grundstück Zweite Marktstrasse Nr. 6 (später Marcusstrasse 36/38) erworben, aus Kostengründen wird der Bau aber immer wieder hinausgezögert. In einer Bittschrift an den Rat der Stadt weist die Gemeinde darauf hin, dass es immer mit grossen Schwierigkeiten verbunden gewesen sei, ein zum G‘tteshaus geeignetes Lokal zu finden, dessen Lage und Räumlichkeit der Heiligen Sache angemessen und würdig sei. Bei dem jetzt angekauften Grundstück sei man aber überzeugt, dass es für die Errichtung eines G‘tteshauses geeignet sei, zumal es einen grossen Hofplatz und Garten besass und auch in der von der Gemeinde bewohnten Gegend in der Neustadt lag.

h132_42.jpg

Abb. 4: Innenraum der portugiesischen Synagoge Marcusstrasse in Hamburg. Fotos: Archiv Halévy, mit freundlicher Genehmigung.

 

Endlich, zwei Jahre später, kann der renommierte Architekt Albert Rosengarten, der als Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in den 1850er und 1860er Jahren für alle Synagogenbauten in Hamburg verantwortlich zeichnet, in Zusammenarbeit mit dem Zimmermeister Ludewig Ferdinand Dettmer auf dem hinteren Teil des Grundstücks, das  von der Strasse aus nur durch einen schmalen, fast zwanzig Meter  langen Gang zu erreichen ist, mit dem Bau beginnen (in Hamburg durften Synagogen nicht von aussen einsehbar sein!). Der Backsteinrohbau mit abgetreppter Fassade und dem geraden Schluss des Giebels entspricht lokalen Traditionen. Rosengarten verwendet (ausser am Giebel) bewusst nicht Formen des christlichen Sakralbaus, sondern folgt dem Vorbild norddeutscher Bürgerhäuser (Abb. 1 und 2).  

Schon im darauffolgenden Jahr können die Hamburger Nachrichten am 8. September 1855 von einer feierlichen Einweihung berichten: 
“Diese kleine Gemeinde, welche gegenwärtig aus 500 Seelen besteht, die sich auf 70 Familien vertheilen, hatte ihr G‘tteshaus vor dem grossen Brande am Altenwall bei der Schlikutsbrücke. Seit jener Zeit mussten sie ihren G‘ttesdienst in einem Privathause abhalten. Der Eingang und das Innere des Gebäudes waren zu dieser Feier recht schön und sinnreich mit natürlichen Blumen ausgeschmückt. Die eigentliche Dekoration der Wände soll dagegen erst später vorgenommen werden […] Später wurde dem zahlreich auf der Strasse versammelten Publicum die Besichtigung des Innern der Synagoge gestattet.“

h132_44.jpg

Abb. 5: Schreibgerät für Jehuda de Mordechai Cassuto. Vor der Dose in der Mitte, die von einem stehenden, nackten Engel bekrönt wird, ist die Architektur des Toraschreins der portugiesischen Synagoge in der Marcusstrasse zu sehen. Privatbesitz Dr. Álvaro Cassuto, Cascais. Foto mit freundlicher Genehmigung M. Halévy.
 

Die Synagoge Marcusstrasse
Die Synagoge Marcusstrasse ist die einzige portugiesisch-jüdische Synagoge, neben der in Altona (Abb. 7 bis 9), auf deutschem Boden. Der Hauptunterschied zu aschkenasischen Synagogen besteht darin, dass der Almemor (Kanzel, Bima, Teva) nicht in der Mitte (wie bei den Aschkenasen) oder an der Ostseite steht (wie bei den Liberalen), sondern fast ganz nach Westen gerückt wird. Der Platz vor dem Almemor bis zum Heiligen Schrein (Hekhal) bleibt frei. Die Bänke stehen in Ost-West-Richtung längs der Nord- und Südwand, der Sitz des Rabbiners befindet sich meist an der Nordwand. 

Durch das Hauptportal  gelangt man in den Vorraum für die Männer und in die Synagoge. Der rechteckige schlichte Kuppelbau besteht aus zwei in der Grösse geringfügig unterschiedlichen quadratischen Bauteilen, die zu einer Einheit verschmelzen: der westliche beherbergt im Untergeschoss eine Vorhalle und, eingerahmt von den an drei Seiten umlaufenden Emporen und mit einem niedrigen, weitmaschigen Gitter versehenen Frauenemporen, den Almemor. Im zweiten Obergeschoss liegt ein kleiner Gebetsraum für die Werktagsg‘ttesdienste (Wintersynagoge). An diesen westlichen Raumteil ist der östliche gefügt, der von einer halbkugeligen Pendatifkuppel überwölbt wird. Der mittlere Raum unter der Kuppel bleibt traditionsgemäss frei (Abb. 2). Nur  an den Seiten steht je eine Bank für die vornehmsten Mitglieder der Gemeinde. Der Hekhal in einem apsisartigen Ausbau mit  Dreiachtelabschluss wird von mehrfach gestuften, mit Zackenkranz geschmückten Bögen umrahmt (Abb. 6). Am 14. August 1874 wird die Israelitische Wochenschrift schreiben, dass diese Synagoge durch den „orientalischen Charakter in Stil und Farben wie eine morgenländische Pflanze auf abendländischem Boden einsam im Verborgenen blüht.“

h132_49.jpg

Abb. 8: Synagoge in der Altonaer Bäckerstrasse, Portal. Foto: Museum Altona, mit freundlicher Genehmigung M. Halévy.

Die Türen des aus dunklem Ebenholz geschnitzten und goldverzierten Hekhal, der stets ungedeckt steht, das heisst ohne den üblichen Aussenvorhang (Parochet), flankieren zwei prächtige korinthische Säulen (Abb. 3, 4, 6). Stattdessen war das Parochet innen angebracht und dann erst wurden die zahlreichen Torarollen sichtbar. Diese standen in kunstvoll geschnitzten silbernen und hölzernen Gehäusen, und die Rückseite der Rollen war in wertvoller Atlasseide gekleidet. Ähnliche Zackenkränze umgeben auch die Rundungen der Emporenarkaden und verleihen dem Innern der Synagoge einen Stilcharakter, der vielleicht an maurische Vorbilder erinnern sollte (Abb. 3 und 4).

Die Malereien  sind in den Landesfarben der holländischen Portugiesen-Gemeinden gehalten. Mit seinen bunt bemalten Säulen und Decken- und Bogenfeldern, die zum Teil mit orientalisierenden Motiven (Arabesken) verziert sind, die sich auch an den Graten im Gewölbe sowie an den seitlichen Rundbogen dieses Raumteils entlangziehen, wird der Bau von den Besuchern als ein Schmuckstück der maurischen Architektur wahrgenommen und gilt von nun an als touristische Attraktion. 

 

In den 1930er Jahren entschliesst sich die Gemeinde, ihre Synagoge an die Deutsch-Israelitische Gemeinde zu vermieten, die das Gebäude nach den Bedürfnissen eines aschkenasischen Ritus umwandelt. Das Hamburger Familienblatt berichtet am 17. April 1935, dass die Synagoge jetzt über neunzig Männer- und vierzig Frauenplätze verfügt, was den Anforderungen an eine Synagoge in der Stadtgegend entsprechen würde. 

Die Esnoga in der Marcusstrasse überstand den Novemberpogrom 1938 anscheinend unbeschadet; 1939 musste sie zwangsverkauft werden. 1942 sollte sie abgerissen werden. Ob es vor der Bombardierung Hamburgs dazu kam, ist ungewiss. In einem Schreiben der Liegenschaftsverwaltung vom 8. November 1949 heisst es lapidar, die Gebäude seien zerstört, die Fläche sei planiert und vermietet. Zerstörung “durch Kriegseinwirkungen” konstatiert der Wiedergutmachungs-Bescheid 1952. 

Faszination des Sefardischen
Das Interesse der Besucher, hier besonders der Mitglieder der Deutsch-Israelitischen Gemeinde (DIG), die an den hohen Feiertagen die Portugiesensynagoge besuchen, wird von den Hamburger Portugiesen argwöhnisch verfolgt. Immer mehr deutsche Juden begeistern sich für den portugiesischen Ritus (vor allem für Liturgie und Musik), für die dazu gehörige Synagogalarchitektur sowie für die von ihnen als authentisch angesehene sefardische Aussprache des Hebräischen. Für die Reformbewegung sowie später die Bewegung der Wissenschaft des Judentums bekommt die sefardische Kultur, besonders ihre Kreativität im Umgang mit dem Hebräischen, Vorbildcharakter. Noch 1980 gibt Ruben Maleachi [Engel] seiner Verwunderung über die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Synagoge bewegenden Ausdruck: 
„Ein Besuch in der portugiesischen Synagoge war für uns immer gleichbedeutend wie ein Ausflug ins Exotische. Der Hazan und der Samas trugen statt des Baretts Dreimasterhüte, dazu einen Frack, Kniehosen und weisse Strümpfe, während die Füsse mit schwarzen Halbschuhen versehen waren. Das alles gab dem Ganzen ein echt mittelalterliches Aussehen, das vielfach an die bekannten Rembrandtbilder erinnerte. Am Simchath Thorafeste war es für die aschkenasische Jugend Ehrensache, für wenigstens eine halbe Stunde bei den Portugiesen zu besuchen und niemand scheute den dreiviertelstündigen Weg von der Grindelgegend in die Marcusstrasse, um dabei gewesen zu sein.4

Zusammen mit der kleineren, 1771 errichteten Synagoge in der Altonaer Bäckerstrasse (Abb. 7 bis 9) ist die Synagoge in der Marcusstrasse bis in die 1940er Jahre die einzige portugiesische Synagoge auf deutschem Boden.

h132_191705n2.jpg

Abb. 9: Synagoge in der Altonaer Bäckerstrasse, Innenraum.
Foto: Archiv Halévy, mit freundlicher Genehmigung.

h132_191705.jpg

Abb. 7: Synagoge in der Altonaer
Bäckerstrasse, virtuelle
Rekonstruktion. Foto: Bet
Tefila, TU Braunschweig, mit
freundlicher Genehmigung M.
Halévy.


Nachlese
Michael Studemund-Halévy, Die Cassutos. Portugiesen aus Hamburg, Rabbiner, Übersetzer, Bibliophile, Musiker. Berlin, Hentrich & Hentrich Verlag 2021. (= Jüdische Miniaturen, hg. v. Hermann Simon, Bd. 280)
Michael Studemund-Halévy, Portugal in Hamburg. Hg. v. der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Hamburg, Ellert & Richter Verlag 2007.
Anmerkungen
1 Michael Studemund-Halévy, Die Cassutos, Berlin-Leipzig 2021: Hentrich & Hentrich.
2 Der Orient III, 32, vom 6. 8. 1842, 252-253.
3 Saskia Rohde, Die Synagogen der Sefarden in Hamburg und Altona, in: Michael Studemund-Halévy (Hg.), Die Sefarden in Hamburg. Zur Geschichte einer Minderheit, Bd. 1, 1994, 141-151, Hamburg: Buske.
4 Die Synagogen in Hamburg, Mitteilungen des Verbandes Ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel, 46-47, Mai 1980, 41-44.