Ausgabe

PESSACH 5782/2022

Rabbiner Joel Berger

Das Pessach-Fest, das uns seit der biblischen Zeit an den Auszug unserer Ahnen aus dem Sklavenhaus Ägyptens erinnert, ist mit vielen rituellen Vorschriften und Verhaltensregeln verbunden. Unsere Weisen meinten, wenn man sich alljährlich an die Anordnungen hielte, könne man letzten Endes auch das wichtigste Erlebnis der Väter, die g‘ttliche Befreiung, nicht vergessen oder verdrängen. 

Inhalt

Der verbreitete Name dieses achttägigen Festes, Pessach, (unter Nichtjuden eher als „Passah“ bekannt) bezieht sich eigentlich nur auf den ersten Tag. Die anderen Tage nennen wir traditionell Chag Hamatzot, das Fest der ungesäuerten Brote. Der Grund für diese Bezeichnung liegt darin, dass uns das Brot dieses Festes, die Matze, als Hauptspeise — sozusagen als unser „täglich Brot“ — während der acht Tage begleitet. Pessach dagegen, das heisst die „Überschreitung“ der Häuser unserer Ahnen durch den Todesboten in Ägypten, bezieht sich auf den ersten Tag des Festes. Pessach ist ein Hinweis auf die Errettungstat G’ttes, damals in Ägypten, die Er seinen unterdrückten und versklavten jüdischen Kindern angedeihen liess: einmalig, und für jeden von uns unwiederholbar und unnachahmbar. Eben eine Heilstat des Herrn! Die Matzot jedoch kann sich ein jeder von uns selber backen, kaufen oder besorgen, um sie an allen acht Tagen geniessen zu können.

So mancher Nichtjude wundert sich, wenn er von der „Heilstat des Herrn“ und zugleich dem Knabbern von Matza-Brot als einer Mitzwa, einer biblischen Pflichterfüllung hört. Wie kann man die heilige Handlung des Herrn und das Profane, das Verspeisen der Matzen, in einem Atemzug erwähnen? Es wäre allzu einfach, die Frage damit zu beantworten, dass wir ständig bestrebt sind, gerade diese Trennung zwischen Heiligem und Profanem aufzuheben, indem wir das Profane, Alltägliche dem Heiligen zuzuführen versuchen. Man könnte auch darauf hinweisen, dass das Brot, oder die Hostie, die die Christen beim Abendmahl zu sich nehmen, nichts anderes als eine umgewandelte, „christianisierte“ Gestalt der Matza ist. Beim Letzten Abendmahl, zur Pessachzeit im Heiligen Lande brach Jesus in der Gesellschaft seiner Jünger nämlich nichts anderes als die Matza. 

Im Buch Dewarim, dem fünften Buch Mose lesen wir: „Halte ein den Frühlingsmonat... Du sollst (am Feste) nichts Gesäuertes essen, sieben Tage sollst du ungesäuertes Brot zu Dir nehmen. Das Brot des Elends, denn in Eile bist Du aus dem Lande Ägypten hinausgezogen...“ (5.B.M.16:1-3)

Unsere Exegeten bemerken zu den erwähnten Versen, dass diese Stelle der Tora zwei unterschiedliche Begründungen für den verbindlichen Verzehr der Matzen anführt. Erstens die Bezeichnung „Brot des Elends“: Sie bedeutet für uns eine Verpflichtung, die Erinnerung an die frühere Not der Sklaverei in Ägypten zu bewahren. Zweitens sollen wir stets das Gedenken an die Hast des Auszuges, an die eilige Befreiung, wachhalten. Zwei unterschiedliche Gründe für eine Mitzwa, für ein Gebot anzugeben, ist ungewöhnlich, führten die Gelehrten aus, es sei denn, es geschehe aus einem besonderen Grund. Und sie meinten auch, den Sinn gefunden zu haben: in der späteren, wechselvollen Geschichte Israels. Dieses Gebot hat, so betonen sie, eine erzieherische Komponente. Als die Israeliten früher, ohne jegliche Gefährdung von Aussen, als freie Menschen in ihrem Lande lebten, galt für sie die Matza an diesem Fest als Erinnerung an das Brot des Elends und die Zeiten der Unterdrückung. Dieses immerwährende Erinnern als ein Gebot der Tora sollte die Israeliten daran hindern, zu glauben, der jetzige Zustand der Freiheit sei ein immer und ewig währender. Vergegenwärtigt sollte werden, dass die Freiheit nur aus der Not heraus erkämpft wurde. Diese Not soll man sich, auch in Zeiten des eigenen Wohlergehens, vor Augen halten, lernen, mit den Gütern nicht verschwenderisch umzugehen und für die Not der anderen immer ein offenes Ohr und Hilfsbereitschaft zu zeigen.
Die Gelehrten verbanden die zweite Begründung des Gebotes, Matza zu essen, auch mit dem Hinweis, wie vorhin erwähnt: „In Eile bist du aus dem Lande Ägypten hinausgezogen“. Dies, so meinten die Kommentatoren, treffe auf jene historischen Epochen zu, als die Israeliten aus ihrem Lande vertrieben worden waren. Jene Zeiten also, als sie in der Diaspora, in der Zerstreuung, unter den Wirtsvölkern als geduldete, oft geknechtete Minderheit lebten oder noch immer leben. Auch dann, und auch dort, wo auch immer sie sich befinden, sollten sie sich an die einstige Heilstat G’ttes, an die Befreiung aus Ägypten erinnern, wenn sie alljährlich die Matzot verspeisen. Der schnelle Auszug aus Ägypten und die Hast, mit der die Ahnen das Land ihrer Unterdrückung verlassen durften, soll in ihnen das Bewusstsein stärken, dass sich alles wiederholen kann.

Die Rabbinen schliessen ihre Lehre mit den Worten: In der Gola, in der Diaspora der Israeliten hat das gemeinsame Verspeisen von Matza sie davor bewahrt, zu verzagen und die Hoffnung auf die Freiheit aufzugeben. In diese Richtung zeigte auch die Fortsetzung des vorhin erwähnten Schriftverses: „Damit Du des Tages Deines Auszuges aus Ägypten gedenken sollst. Alle Tage Deines Lebens.“ Die Erinnerung an das Vergangene ist demnach eine Verpflichtung, sowohl in bösen wie auch in guten Zeiten. Die Erinnerung muss nur einen „Auslöser“ haben. Dieser ist das Verspeisen der Matza. Das Gedächtnis kann mit der Zeit schwächer werden. Der Magen aber ist ein guter „Erinnerer“.

Die Matzot werden heutzutage in Fabriken unter Aufsicht der örtlichen Rabbinate, nicht selten mit Hilfe elektronisch gesteuerter Maschinen und Öfen hergestellt. Dies wäre in der heutigen Zeit kaum erwähnenswert, aber der Sachverhalt stellt sich anders dar. Noch am Anfang des letzten Jahrhunderts nahmen bedeutende Rabbiner gegenüber der maschinellen Matzenbäckerei eine strikt ablehnende Haltung ein. Den Grund haben sie ein wenig verschleiert. Und so dachte man eine Weile, dass die maschinelle Verarbeitung jene Gärungsprozesse, die es unbedingt zu verhindern gilt, nicht hätte ausschliessen können. Dies war jedoch nicht der wahre Grund. Die Rabbinen waren ausschliesslich aus sozialen Überlegungen gegen die Automatisierung. Sie befürchteten, dass viele arme Leute, die keine anderen Arbeitsplätze hätten bekommen können, ihren Lebensunterhalt über die strenge Winterzeit verlieren könnten, wenn man die Maschinen einführte. Deshalb sprachen sie sich gegen die „rituelle Reinheit“ der maschinell gebackenen Matzen aus.

Manche Gelehrte hatten noch einen anderen Einwand gegen die maschinelle Herstellung. Für sie war die Motivation beim Herstellen der Matzot entscheidend. Der Teig für die Matzot wird auf vorgeschriebene Weise aus abgestandenem Wasser und Weizenmehl hergestellt sowie anschliessend im heissen Ofen gebacken. Dies stellt vor allem eine „Mitzwa“, eine religiöse Pflichterfüllung aus der Tora dar. Eine Mitzwa setzt jedoch die Kawana, also die Motivation voraus, die Intention, die Konzentration des Bewusstseins, dass man eine heilige Pflicht erfüllt.  Dazu sind nicht einmal die modernsten Maschinen in der Lage. Dies ist nur dem pflichtbewussten, religiösen Menschen möglich. Aus diesem Grunde aber nehmen sich die besonders gesetzestreuen Männer und Frauen am Rüsttag des Festes Zeit und Mühe und stellen unter Psalmgesängen handgefertigte Matzot her, zumindest für die Seder-Abende. Somit sprechen sie die Brachot, die Segenssprüche auf die Matzot, nach getaner Pflichterfüllung, wie in der Tora befohlen.

Wichtig ist es, anzumerken, dass unsere soziale Verpflichtung den Ärmeren gegenüber in den jüdischen Gemeinden im Vorfeld des Pessach-Festes besonders ernst genommen wurde und wird.  Jeder ist dazu aufgerufen, für eine vorschriftsmässige rituelle Ausstattung der sozial Schwächeren Sorge zu tragen. Die meisten Gemeinden in Deutschland hatten stets ihre Sonderfonds, aus denen sie betont unbürokratisch, ohne die Notleidenden zu beschämen, diesen die Maot Chittin, die „Getreidezulagen“ vor dem Fest zukommen liessen. Grosse physische Not ist heute g’ttlob nicht zu beklagen. Jeder, der will, kann sich die Matzot für das Fest leisten. Was uns dagegen mit grösserer Sorge erfüllt, ist der Mangel an jüdischem Wissen. Dieses Wissen über unsere Feste ist zur eigentlichen Mangelware geworden. Um diesen Zustand zu beheben und sozusagen auch unsere Herzen von Chamez zu befreien, bedarf es all unserer Anstrengungen.