Ausgabe

Das Wunder von Le Chambon sur Lignon Die Mautners

Erich Félix Mautner

Die Geschichte der Bürger Chambons und der umliegenden Dörfer ist ein weltweites Vorbild für ethisches Verhalten, zivilen Ungehorsam, Menschlichkeit gegenüber Flüchtlingen – vor allem ein Vorbild zur Nachahmung, heute genauso wie in den damaligen Kriegsjahren! Die Erlebnisse meiner Familie sind solche von tausenden. 
 

Inhalt

Meine Familie wohnte zeitweise gemeinsam mit der Familie Schwam. Die Mautners kamen dorthin mit einem Visum für ein lateinamerikanisches Land, in das sie, so ihre Erzählung, gar nicht wollten. Ausgestellt wurde das Visum von einem Konsul in Wien, der den Flüchtenden noch mitgab, das Visum wäre wertlos, da er längst abgesetzt sei (wie im ersten Teil von Georg Stefan Trollers An uns glaubt G‘tt nicht mehr und Axel Cortis Wohin und zurück geschildert). 
Das Visum führte nach Frankreich, wo die Mautners vorgaben, auf ein Schiff zu gehen. Sie blieben aber in Paris. Das war nicht so einfach, weil Dr. Walter Mautner, der Vater, als Arzt nicht praktizieren durfte und stattdessen in einer Glasbläserei Geld verdiente – bis ihn die Franzosen als feindlichen Ausländer internierten. Die Mutter, Grete Mautner, blieb mit ihrem Kind Egon in Paris und erfuhr dort durch die Flüchtlings-Community vom Ort Le Chambon sur Lignon. Dort werde geholfen. 
Im Juni 1940 verlassen die beiden, Mutter und das „Bubi“, Paris. Es gibt ein Schriftstück, das sie am 14. Juni in Mazet-Saint-Voy dokumentiert, der Nachbarortschaft von Chambon. Später kommt der Vater nach, dem die Mutter irgendwie verschlüsselt geschrieben hatte. Offenbar sollte Chambon nur eine Etappe in die Freiheit sein, denn dank Pastor Trocmé kontaktierten die Mautners pazifistische Organisationen und amerikanisch-protestantische Kirchen. Vor allem schickten sie ihre Lebensläufe an Nevin Sayre, den Generalsekretär der Fellowship of Reconciliation, damit dieser ihnen zu Visa verhelfe. Die Familie Mautner war schon in Wien im Rahmen ihrer Fluchtpläne einer anglikanischen Kirche beigetreten beziehungsweise getauft worden – was aber nichts daran geändert hatte, dass in ihre Reisepässen ein „J“ gestempelt wurde. Lydie Ferrier (eine der „Ältesten“ einer der protestantischen Gemeinden in Chambon, deren es ja mehrere gibt) erzählt, dass Walter sonntags in den Temple ging und „Bubi“ in die Sonntagsschule.
Wie viele andere Juden, die aus Europa fliehen wollten, bekamen die Mautners kein Visum. Sie bemühten sich weiterhin darum, aber erfolglos. So entschlossen sie sich, es über die Schweizer Grenze zu versuchen. Im Herbst 1942 war es soweit, und sie folgten einer Gruppe aus dem Dorf in Richtung Schweizer Grenze. Der Lastwagen, der sie transportierte, geriet in eine Polizeikontrolle. Grete und Walter stiegen aus und liessen „Bubi“ mit dem Auftrag, er solle sich ja nicht bewegen, im LKW sitzen. Beide wurden festgenommen und nach Rivesaltes gebracht. Später wurden sie nach Gurs transferiert. 

h132_88.jpg

Marie Brottes und „Bubi/Boby“ Egon Mautner.


Dort war gleichzeitig Karl Farkas inhaftiert und der nicht ganz unumstrittene, spätere Schriftsteller und Kunstkritiker des Wiener Express, Franz Tassié. (Anmerkung: Ich traf Tassié in den 1960er Jahren zufällig im Café Hawelka in Wien. Wir kannten uns, so habe ich ihn darauf angesprochen, er sei doch gemeinsam mit meinem Vater in Frankreich interniert gewesen, und er wusste auch gleich, dass ich Gurs meinte. Natürlich hätte ich gerne mehr darüber wissen wollen, bat ihn aber, kurz zu warten, weil ich noch zur Toilette musste. Als ich drei Minuten später wieder an den Tisch kam, war er grusslos verschwunden.)
„Bubi“ wurde von einem der Fluchthelfer nach Le Chambon zurückgebracht. Die Gemeinde nahm sich sofort seiner an und brachte ihn bei einer bürgerlichen Familie, den Héritiers, unter. Diese Familie kümmerte sich um ihn, bis seine Eltern zurück waren. Briefe und Pakete verliessen Chambon nach Rivesaltes und später nach Gurs: Marie Brottes, André und Magda Trocmé, die Héritiers: alle versuchten, Walters und Gretes Leben in Gurs erträglicher zu gestalten. In ihren Briefen schreiben sie Neuigkeiten, was „Bubi“ angeht: Die Héritiers schicken ihnen Zeichnungen, die er gemalt hat. André Trocmé schreibt (15. November 1942): 
„Ich habe euren „Bubi“ Donnerstagabend bei den Héritiers gesehen. Er lag in einem grossen Bett und schlief tief. Die Héritiers sagten, dass er glücklich bei ihnen sei, brav und folgsam, und dass er es mochte, mit ihnen zu singen.“
Im selben Brief schreibt André Trocmé an die Mautners, dass er 
„eine Unterkunftsbescheinigung an die Präfektur geschickt [hat], damit Ihr sobald wie möglich Euren Sohn wiedersehen könnt. Wir hoffen sehr, dass nichts in den Weg kommt!“
Die Mautners werden endlich freigelassen und können ihren geliebten Sohn in Chambon wieder in den Arm nehmen. Werden sie weiterhin versuchen, zu fliehen? Oder werden sie in diesem Dorf bleiben, welches sie alle drei willkommen geheissen hat, und wo sie dank der Hilfe aller, die um sie ein Netzwerk der Solidarität gebildet hatten, Stück für Stück ihre Existenz wiederherstellen konnten?
André Trocmé schildert später in seinen Erinnerungen: 
„Doktor Mautner kam aus Wien und hatte einen fürchterlichen Akzent. Er war sehr mutig. Während des ganzen Krieges machte er die Küche und den Haushalt, damit seine Frau als Näherin in Le Chambon arbeiten konnte. Sie lebten dort versteckt. Wir liehen ihr unsere Nähmaschine, die den ganzen Krieg über lief. Monsieur Mautner konnte nicht als Arzt arbeiten, aber seine Frau arbeitete heimlich als Näherin. Jede Woche kam er, um sich den Waschkessel auszuleihen, und die Kinder lachten, weil er dann sagte: »Matam‘ la lessifeuse, s’il fous plaît«“.  
„Näherin“ ist der Übersetzung geschuldet. Die Mutter hatte sich die Schneiderei beigebracht und letztlich mit mehreren Gehilfinnen für die Bürger der ganzen Umgebung, auch für Damen aus Paris, geschneidert. Das Städtchen war ja seit jeher ein Höhenluftkurort für Kinder und Lungenkranke, und eine Sommerfrische für die bessere Gesellschaft. 
Der Vater hatte die ganze Emigrationszeit über seine 6x6-Rolleiflex bei sich, die er hatte retten können und hielt die Jahre in Le Chambon fotografisch fest. Erstaunlicherweise konnte er immer Filmmaterial auftreiben und die Ausarbeitung organisieren. Meine Familie hatte zeitweise fünf verschiedene Unterkünfte zugleich gemietet, um, je nach Bedrohung, schnell den Ort wechseln beziehungsweise untertauchen zu können. Die Gendarmen, die natürlich besser Bescheid wussten als die Deutschen, praktizierten Widerstand bisweilen auf ihre eigene Art. Einmal sagte einer meinem Vater: „Herr Doktor, wir werden Sie morgen vormittags abholen!“ 
Eines Tages kam mein damals noch kleiner grosser Bruder heim und erzählte, ein freundlicher Soldat in deutscher Uniform habe dem herzigen Kind über den Lockenkopf gestrichen. Hätte ihn der Soldat etwas gefragt, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet. Er durfte also nicht mehr Deutsch sprechen. Als wir 1946 nach Wien kamen, sprach er kein einziges Wort Deutsch. Aber Kühe hüten konnte er.
Unter den Umständen der Verfolgung und des Exils haben natürlich alle Betroffenen gelitten. Meine Mutter hat bis zu ihrem Tod Angstträume gehabt, in denen sie in Lagern war. Vater hat darüber nie gesprochen. Sein schlimmstes Trauma dürfte gewesen sein, dass er in dieser Zeit seine Funktion als Familienoberhaupt und -erhalter nicht erfüllen konnte, im Gegenteil, ihn seine Frau vor Angst zitternd erleben und sogar verstecken musste. Zurück in Wien hat der Vater die Familie (auch die Mutter, die als Freidenkerin erzogen worden war) – sicherlich auch aus Dankbarkeit für die Rettung ihrer Leben – in der reformierten Kirche (evangelisch H.B.) eintragen lassen.

h132_61.jpg

 Erich Félix Mautner und sein älterer Bruder „Bubi/Boby“ Egon Mautner.
 


Am schlimmsten dürfte es meinen Bruder getroffen haben, der ja von Geburt an bis zu seinem achten Lebensjahr auf der Flucht war. Die Eltern hatten ihn, kein Wunder, nicht „Egon“ sondern „Bubi“ gerufen. Das kannten die Franzosen nicht, sie verstanden stattdessen „Boby“. 
Im Internet findet sich tatsächlich auf einer Seite über Le Chambon eine Erwähnung über „Le docteur Mautner et sa femme Grete“ und deren Sohn „Robert“ und „leur fils Erik naquit en 1944.“ So blieb Egon bis ins hohe Alter „Boby“. 
Während „Boby“ bei den Héritiers versteckt war, konnte er am Bauernhof erstmals Sicherheit, Ruhe und stressfreie Familienverhältnisse erleben. Als ihn seine Eltern endlich glücklich wieder in die Arme nehmen konnten, war es kein Wunder, dass er nicht mehr zu ihnen zurückwollte – und ihnen das sehr lange nicht verziehen hat. Noch dazu, wo er plötzlich auch nicht mehr das Einzelkind in der Familie war.
Im April 2021 recherchierte der Korrespondent von Le Monde, Jean-Baptiste Chastand, in Österreich über Le Chambon. Auf seine Anfrage beim mittlerweile 83-jährigen „Boby“ Egon Mautner erhielt der Journalist eine SMS-Nachricht, er möge ihn nicht belästigen! Mir schrieb Chastand daraufhin:
„Ich habe versucht, Ihren Bruder zu erreichen, und er hat mir nur geschrieben, dass er kein Interesse hat und dass ich ihn belästige... wissen Sie, ob das Thema Chambon bei ihm sehr sensibel ist?“
In dieser Situation, in einem Versteck, wo weinende Babys ihre Familien verraten konnten, wurde ich am 3. Mai 1944 (einen Monat vor dem D-Day) in einem kargen Bauernhaus geboren. Der Vater war ja Arzt. Ich habe sogar eine offizielle Geburtsurkunde des Bürgermeisters. Im Geburtenregister der Gemeinde stehe ich als No. 22 dieses Jahres und mit der Adresse der Eltern. Was schon recht gewagt aussieht. Als Vornamen wurden für mich zwei gewählt, die meinen Eltern in beiden Landessprachen gleich und verständlich schienen: Erich und Félix. Als Kind war ich also „Erich“, aber seit ich meine eigenen Visitenkarten mit beiden Vornamen drucken lasse, sprechen mich ausnahmslos alle als „Félix“ an. Mir ist’s wurscht. Ich habe grosse Chancen, der letzte Holocaustüberlebende zu werden.  
Die Familie Mautner blieb bis zum Ende des Krieges in Chambon; sie wollte warten, bis sich die Lage in Österreich verbesserte, um wieder nach Hause zu können. Am 27. November 1945 erhielten die Mautners ein Zertifikat, das ihren Flüchtlingsstatus bezeugte. Angekommen in Wien, wieder zurück in Meidling, brachten jene Wiener, einfache Leute, denen mein Vater vor der Flucht Wertgegenstände zur Aufbewahrung anvertraut hatte, darunter drei Kristall-Vasen, Besteck und Silber, alles vollzählig und unbeschädigt zurück.

h132_04.jpg

Grete Mautner und „Bubi/Boby“ Egon Mautner mit dem Ehepaar Brottes in Le Chambon.
 

Die Kraft des Pastor Trocmé
Die Leute in Chambon, hauptsächlich einfache Bauern und Handwerker, waren wunderbar. Die Menschen haben alle geholfen. Besonders engagiert war die dortige Armée du Salut, die Heils-Armee. Aber die Motivation und die Anleitung, der heilige Zorn, kamen von Pastor Trocmé. Solange er in seinem kleinen Temple die Order ausgab, war zum Beispiel keine Résistance am Plateau. Es durften keine Waffen verwendet werden! Als er einmal für einige Zeit von den Soldaten aus dem Ort geholt wurde, standen die jungen Leute umgehend unter Waffen. Trocmé hatte schon im Ersten Weltkrieg seinen Militärdienst an der Waffe in Marokko verweigert und war deshalb in eine Strafkompanie gekommen.

h132_01.jpg

Erich Félix Mautner und seine Mutter Grete Mautner in Le Chambon
 
Über das Wunder von Chambon wurden seither Bücher und Studien veröffentlicht – tatsächlich waren auch andere Orte in Frankreich ähnlich aktiv. Weltweit wird dieses Phänomen wissenschaftlich untersucht, vor allem, warum sich (zuerst) der antisemitische État Français des Vichy-Regimes und (dann) die Deutsche Wehrmacht den gallischen Widerstand augenscheinlich haben gefallen lassen. In anderen von den Nazis eingenommen Städten wurden Menschen schon für geringeren Widerstand brutal an die Wand gestellt. Eine plausible Erklärung für die scheinbare Nachlässigkeit könnte gewesen sein, dass die Wehrmacht den Ort und seine ordentliche Infrastruktur für die Rehabilitation ihrer an der Ostfront verwundeten Offiziere brauchte. Chambon sur Lignon ist ein wertvoller Luftkurort. Daher bestehen auch bis heute dort die vielen Kinderheime. 

h132_02.jpg

„Bubi/Boby“ Egon Mautner auf einem Grenzstein bei Le Chambon.


Nach dem Krieg wurde Pastor André Trocmé in den Weltkirchenrat nach Genf berufen. Vor einfünfzig Jahren, 1971, wurden er und seine Frau Magda von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Zweiunddreissig weitere Bürger von Le Chambon sur Lignon wurden mit diesem Titel ausgezeichnet, und 1990 ehrte Yad Vashem das Dorf mit einer besonderen Urkunde in Anerkennung des menschlichen Verhaltens seiner Einwohner während des Krieges. Trocmés gewaltfreier Einsatz für den Frieden lässt ihn aus der Sicht von Historikern in einer Reihe mit Martin Luther King, Mutter Teresa und Mahatma Gandhi stehen.
1949 kehrten Oskar und Malcie Schwam nach Wien zurück. Erich Schwam, mittlerweile zwanzig Jahre alt, blieb in Frankreich, schloss sein Studium ab, heiratete später und machte Karriere in der Pharma-Industrie. Am 25. Dezember 2020 starb er in Lyon und hinterliess ein Testament, das die Welt auf Le Chambon sur Lignon und seine Bevölkerung aufmerksam werden liess.

h132_03.jpg

Dr. Walter Mautner und „Bubi/Boby“ Egon Mautner mit dem Ehepaar Brottes in Le Chambon.
 

Teil I ist in DAVID, Heft 131, Chanukka 2021, S. 54-58 erschienen.

Nachlese:
Sabine Zeitoun: „Ces enfants qu’il fallait sauver“ Albin Michel
Philip Hallie: „… Dass nicht unschuldig Blut vergossen werde. Die Geschichte des Dorfes Le Chambon und wie dort Gutes geschah“, Neukirchener/amerikanische Originalausgabe: „LET INNOCENT BLOOD BE SHED“, New York 1979
Philippe Boegner: „Ici, on a aimé les Juifs. Le Chambon-sur-Lignon“, Édition J.C. Lattès 
Gérard Bollon: „Le Chambon sur-Lignon d’hier et d’aujourd’hui“, Editions Dolmazon
Carol Matas: „Une lumière dans la nui. Les enfants du Chambon“, Le LIVRE de POCH 
Hanna Schott: „Von Liebe und Widerstand. Das Leben von Magda & André Trocmé“, Neufeld Verlag
Allison Stark Draper: „Pastor André Trocmé“, Rosen 
Pierre Boismorand: „Magda et André Trocmé, figures de résistance“, Éditions Cerf
Patrick Cabanel: „De la paix aux résistances. Les protestants français de 1930 à 1945“, Fayard
Magda und André Trocmé: „So kam es, dass wir in den Untergrund gingen. Berichte aus Frankreich. 1940/41“ in Margot Kässmann: „G‘tt will Taten sehen. Christlicher Widerstand gegen Hitler“, C.H.Beck, Seite 226-236
André Trocmé: „Jesus and the Nonviolent Revolution“, Scottdale, 1973
Emile C. Fabre: „God’s Underground“, Saint Louis, 1970
Peter Feigl: https://www.youtube.com/watch?v=sn6leBNF7ok

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung Erich Félix Mautner.