Roger Reiss wurde am 24. November 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, in Zürich geboren.
Kampf der Hähne. Collage: Roger Reiss, 2016.
Rogers Vater Léon war siebenjährig mit seinen Eltern Fischel und Chaye Reiss bereits im Jahr 1917 aus Galizien (damals Polen) in die Schweiz gekommen. Die beiden liessen sich im Arbeiterviertel von Zürich nieder. Im Jahr 1933 verlobte sich Léon mit Lucie, einer Wienerin; auch dieses Paar blieb in Zürich ansässig. Ihrer Ehe entstammten drei Söhne: Jack, Harry und Roger.
Über längere Zeit war Roger Reiss externer Mitarbeiter der Jüdischen Rundschau in Basel. Ab dem Jahr 2003 entstanden die ersten autobiographischen Bücher. Im Jahr 2015 verfasste er seinen ersten Roman Der mundtote Schweizer Private Banker, in dem er eine Welt beschreibt, die er bestens von innen her kennt. Neben seinem literarischen Schaffen tritt Reiss auch mit Collagen hervor. In Österreich wurden einige Collagen unter dem Titel Hast du meine Alpen gesehen? sowohl im Jüdischen Museum Hohenems (2009, kuratiert von Hanno Loewy) als auch im Jüdischen Museum Wien (2010, kuratiert von Gerhard Milchram) ausgestellt.
Retter in der Not
Roger Reiss berichtet selbst Folgendes über die Idee zu seinen Rabbiner-Collagen: Befand er sich in Antwerpen, machte er einen Abstecher zum Boekhandel YAM (Meer), der für den Verkauf talmudischer Schriften im Umfeld des chassidischen Milieus bekannt war. Dieser geistige Ausflug war nicht jedermanns Sache, sagt er. Es habe eine Prise von Empathie gebraucht, sich in dieses „Wespennest“ zu verirren. Doch der Buchhändler, der am Scheideweg der talmudischen Streitigkeiten gestanden sei, habe sich bestens darauf verstanden, die ewigen Unstimmigkeiten der Rabbiner zu glätten.
Bereschit-Nachglühn. Collage: Roger Reiss, 1995.
Nicht von ungefähr habe man beim versierten Buchhändler Israel Melczer praktisch alles finden können. Dessen geheimes Rezept sei es gewesen, dass jeder seine Lieblingslektüre vorfand und er den gesuchten Text auswendig nachplappern konnte. Daher sei es kein Zufall gewesen, dass er bei den heranwachsenden Talmudschülern beliebt war, die nach den Talmud-Büchern ihrer bevorzugten Rabbiner-Dynastie nachfragten, von denen etliche Nachfolger ihr Erbe beanspruchten. Erstaunt über die vorgefundene blinde Verherrlichung dieser Wunder-Rabbiner kaufte Reiss, zunächst gegen den Willen des Buchhändlers, jene ganze Schachtel, in der Original-Abbildungen der verehrten Rabbiner verstaut waren. Melczer witterte ein einmaliges Geschäft, führte Reiss ins Hinterzimmer seines Geschäfts und zeigte ihm einen Schaukasten, in dem ein Haufen verstaubter Postkarten lag, mit den Worten: „Nehmen Sie alle, seit fünfzig Jahren versuche ich, die Erben dieser Postkarten zu finden, doch die Antwort ist immer die gleiche, sie alle sind ojsgeharget, in Oswieçim.“ Mit gläsernen Augen schaute Melczer in die staubigen Regale und wiederholte: „Es sind berühmte Familiennamen, die in Auschwitz vergast wurden. Mehr weiss ich auch nicht.“
Dann sagte er verbittert: „Wussten Sie, dass einigen der Eintritt in die Schweiz verwehrt worden war?“
Im Bewusstsein dieser Tragödie begann Reiss eine Serie von Rabbiner-Collagen zusammenzustellen, die er unter anderem vor dem Hintergrund der unzugänglichen Schweizer Alpen in Szene setzte. Entstanden sind chassidische Wunderrabbiner, die in einen phantastischen Dialog mit den unbezwingbaren Schweizer Alpen verwickelt sind. Ohne es eigentlich zu wollen, mutierte Roger Reiss mit den aufgefundenen Rabbiner-Postkarten zum Retter in der Not aller verschollenen Rebben.
Bar Mitzwa Roger Reiss: Synagoge Freigutstrasse, Zürich, Art Déco Deckengewölbe, Michael Richter, 2007. Collage: Roger Reiss.
Erzählende Darstellung
Collage ist ein Wort, das aus dem Französischen stammt und bereits auf die spezielle Technik hinweist. Etwas wird geklebt, unterschiedliche Materialen werden angewendet, oft sind es transparente Folien, um ein neues Ganzes entstehen zu lassen: ein Sich-Überlagern der Schichten. Aber religiöse, jüdische Themen als Collagen? Das ist doch sehr aussergewöhnlich – alte Fotografien von chassidischen Rabbinern in neuem Umfeld mit einer tieferliegenden Aussage, einer sozialkritischen Komponente.
In der bislang letzten Themenausstellung, im Jahr 2017, wurde in Basel, im Jüdischen Museum der Schweiz und kuratiert von dessen Direktorin Naomi Lubrich, die Serie der Rabbiner-Collagen unter dem Titel Kunst nach Chagall ausgestellt. Über den ausgestellten sieben Bildern stand an der Wand: „Glauben & Träumen, Idyll & Identität“ – eine Beschreibung, die dem Werk von Roger Reiss mehr als gerecht wird.
Roger Reiss vor seinen Rabbiner-Collagen. Foto: Frantisek Matous, Jüdisches Museum der Schweiz.
Anhand der angewandten Technik des Collagierens prallen verschiedene Welten aufeinander. Im Dekor der hohen Alpen, die aus einer Vogelperspektive abgebildet sind, blinzelt ein sefardischer Rabbiner in Richtung Eidgenossenschaft, bittet um Gnade, um als spanischer Flüchtling eingelassen zu werden. Ein anderer Rebbe ist beim morgendlichen Gebetsriemenlegen plötzlich von der winterlichen Kälte eingeholt worden, so schnell, dass er in den Gletscherspalten festfriert. Er wartet und wartet auf bessere Zeiten, in der Hoffnung, dass der Messias endlich einmal komme und ihn aus der misslichen Lage befreien werde.
Marc Chagall, geboren im russischen Schtetl Witebsk, wanderte im Jahr 1910 nach Paris aus, wo er sich, befreit von allen Zwängen, rasant entwickelte. Das erste Hauptthema seiner grossflächigen Ölbilder ist das familiäre Umfeld seiner verlorenen Heimat. Einzelfiguren von in sich gekehrten Rabbinern nehmen einen wichtigen Stellenwert ein. Gemalt sind diese alle in einem dunklen Ton. Dem Betrachter stellen diese Portraits allerlei Fragen, sie sind von einer nicht wegzudenkenden Melancholie beflügelt. Grelle Farben, ungewohnte Betrachtungsweisen, schwebende Figuren kommen später ins Spiel. Mit seiner expressiven Malerei kann man Chagall auch als „jüdischen Maler-Poeten“ bezeichnen.
Abstrahiert man von Chagalls künstlerischer Ausführung, gibt es inhaltliche Parallelen zu den Collagen von Reiss. Obgleich Reiss in keinem „Schtetl-Leben“ aufgewachsen ist, kommt er immer wieder in Kontakt mit einem orthodoxen Milieu. Die Rabbiner befinden sich – im Gegensatz zu jenen Chagalls – in hellem Licht, angelegt in der Nähe des Allmächtigen.
Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung R. Reiss.