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Welche Farbe hat ein Feuerzeug? Die Minsker Psychologin Chana über ihr Leben in Belarus, 2020

Bella Liebermann

Eine jüdische Psychologin aus Minsk berichtet im Jahr 2020 über ihr Leben in Zeiten der Krise in Belarus.
 

Inhalt

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Demonstrantinnen in Belarus, 2020. Foto: Chana.
 

Chana ist 39 Jahre alt und Psychologin. Sie wohnt mit ihrer Tochter in einem Mehrfamilienhaus. Chana ist ihr jüdischer Name. Sie hat auch noch einen „normalen“ russische Namen, der in ihrem Personalausweis steht. Viele Juden in der ehemaligen Sowjetunion versuchten, ihre Herkunft und Zugehörigkeit zum Judentum nicht öffentlich zu zeigen – es war mit Nachteilen verbunden. Chanas Eltern waren ebenso eingestellt. Den jüdischen Namen als zweiten Namen bekam sie von einem Rabbiner, als sie sich nach ihrem Studium in einer Synagoge anmeldete. Das folgende Interview wurde im Jahr 2020 geführt.

Liebermann: Welche Position haben die jüdischen Gemeinden in Belarus bei der heutigen Politik? Welche Meinung vertreten Sie?
Chana: Das ist eine schwierige Frage. Die Synagogen und christlichen Kirchen haben einen sogenannten Staatsvertrag wie andere gesellschaftliche Organisationen auch. Laut diesem Vertrag ist es verboten, in die Politik des Staates dreinzureden.

Liebermann: Dennoch nehmen Juden an den Protesten teil. Warum tun sie das?
Chana: Sie machen das freiwillig. Offiziell dürfen unsere Rabbiner uns diesbezüglich nichts vorschreiben, aber inoffiziell wird es anders gelebt. Dabei sind die Positionen der Rabbiner durchaus divers.

Liebermann: Wie können Sie sich die unterschiedlichen Positionen der Gemeindemitglieder erklären?
Chana: Zu den Protesten gehen überwiegend junge Leute. Es gibt aber viele alte Leute, darunter auch Holocaust-Überlebende: sie verhalten sich nach aussen hin neutral. Die Leute haben Angst, denn in vielen Städten befinden sich die Synagogen in der Stadtmitte, in der Nähe von Stationen der Omon-Einheiten. Diese Männer in ihren schwarzen Uniformen marschieren auf der Strasse. Sie könnten in jedem Moment in die Synagoge eindringen und Menschen verhaften – wie sie es auch überall sonst tun.
Liebermann: Sie sind eine der jüdischen freiwilligen Helferinnen, die beim Gefängnis in Zhodino (in der Nähe von Minsk) gearbeitet haben. Was erlebten Sie dort?
Chana: Nach den verfälschten Wahlergebnissen vom 9. August fingen die Menschen an, in Massen zu demonstrieren. Es folgten Verhaftungen, und die Menschen mussten im Gefängnis unter unmenschlichen Bedingungen verweilen (beispielsweise fünfzig Leute in einer Zelle, welche für ursprünglich fünf Person ausgelegt war), sie wurden brutal geschlagen und gefoltert. Nach der Freilassung brauchten viele von ihnen Hilfe. 

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Rotweisse Schuhe als Protestsymbol. Foto: Chana.

In sozialen Netzen hatte ich gelesen, dass freiwillige Helfer wie Ärzte, Psychologen oder Fahrer gesucht werden und meldete mich sofort dort. Ich verbrachte einige Nächte mit Angehörigen sowie freiwilligen Helfern auf einem Feld vor dem Gefängnis. Die Freiwilligen hatten sich in verschiedenen Zelten organisiert: In einigen gab es Essen und Trinken, in anderen Ärzte und Medikamente. Den verwundeten freigelassenen Häftlingen wurde Erste Hilfe geleistet. Wir wechselten uns alle acht Stunden ab und schliefen auf Feldbetten in einem nahegelegenen Wald. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass viele Menschen solidarisch mit den Beschuldigten sind.

Liebermann: Sie sind Psychologin. Wie können sie dort, auf dem Feld, ihre Kenntnisse anwenden?
Chana: Sofort vor Ort organisierte ich eine Gruppe und brachte den Freiwilligen bei, wie sie denjenigen, die das Gefängnis verlassen, psychologische Hilfe leisten können. Die Gefangenen waren Opfer unmenschlicher Folter. Einigen Gefangenen wurden Zähne ausgeschlagen, und dann sollten sie ihre Zähne auch noch auffegen. Die Männer wurden auch mit Knüppeln vergewaltigt. Aber es ging nicht nur um physische Verletzungen, sondern auch um die psychische Traumatisierung. Im Gefängnis waren die Menschen hilflos, sie konnten keinen Anwalt konsultieren und wurden gezwungen, erfundene Beschuldigungen einzugestehen. Bei vielen Menschen zerbrach ihr bisheriges Weltbild, das kann später zu Posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Fast alle Gefangenen waren nach ihrer Entlassung völlig verwirrt. Unsere Aufgabe war es, die Menschen wieder in die Realität zu bringen.

Liebermann: Und wie haben Sie das geschafft?
Chana: Stellen sie sich vor: In der Nacht kommt ein Aufpasser zur Zelle, dem Gefangenen wird gesagt, 
„Komm, wir gehen zum Wald. Du wirst erschossen und niemand findet Deine Leiche.“ Danach wird dieser Gefangene auf dem Feld alleine gelassen. Er sieht unbekannte Menschen, die auf ihn zugehen. Seine Reaktion? Angst, Panik. Ich habe den Freiwilligen in der Gruppe „Psychologie“ beigebracht – man soll Freigelassene nicht anfassen, sie nicht umarmen (vielleicht haben sie auch Wunden und werden schreien vor Schmerzen), mit ihnen ruhig reden, sie vorsichtig untersuchen und versorgen. Danach kann man versuchen, ihnen das Gefühl, ein Mensch zu sein, zu geben. Zum Beispiel: Ein Gefangener wollte rauchen und suchte nach einem Feuerzeug. Ich fragte ihn: Welche Farbe von Feuerzeug möchtest Du haben?“ Er war verblüfft, danach fing er an zu weinen.

Liebermann: Warum?
Chana: Freie Menschen haben eine Wahl.

Liebermann: Demonstrieren jüdische Menschen auch?
Chana: Ja, klar. Zum Beginn der Demonstrationen demonstrierten Mitglieder der jüdischen Gemeinde mit der israelischen Flagge. Danach wurden sie gewarnt und verzichteten auf diese Symbole, so begaben sie sich mit den üblichen Symbolen zur Demonstration. 
Zum Beispiel: Weiss-Rot für Kleidung, Schuhe und Fahnen. Diese Farben sind die Farben der Fahne des unabhängigen Belarus und signalisieren eine Zugehörigkeit zu Protest-Gruppen. 
Die Nationalflagge des Landes ist eigentlich Grün-Rot, es ist gefährlich, Weiss-Rot zu tragen. Wenn aber tausende von Menschen in Weiss-Rot bekleidet sind, kann man nicht alle verhaften. Meine Lieblingsschuhe sind die weiss-roten Sportschuhe. Ich habe sie zu Jom Kippur getragen.

Liebermann: Wie haben Sie Jom Kippur verbracht? Nehmen  Sie weiterhin an der Freiwilligenbewegung teil?
Chana: Am Sonntag, dem 27. September, nahm ich an einer grossen Demonstration teil. Ich sagte aber meinen Mitstreitern, ich müsse früher nach Hause gehen, um mich für Erev Jom Kippur vorzubereiten. Am Montag war ich in der Synagoge. Ja, ich mache noch mit bei den freiwilligen Helfern, aber viel weniger oft als bisher. Aus verschiedenen Gründen verbleiben weniger Menschen in den Gefängnissen, und sie werden schneller freigelassen. Ausserdem wurde es nachts kalt und wir schlafen jetzt abwechselnd in Campingbussen. Zudem kann ich nur dort sein, wenn einer meiner Freunde inzwischen bei meiner Tochter bleibt.

Liebermann: Haben Sie auch Sukkot gefeiert?
Chana: Unsere Synagoge liegt in der Nähe des historischen Stadtzentrums, wo sich die Botschaften und die örtliche Polizeistation befinden. Dort gehen auch Demonstranten vorbei. Natürlich wurde im Hof der Synagoge eine Sukka (Laubhütte)gebaut. Ich war am Schabbat dort, der Verkehr war wegen einer Demonstration blockiert. Gemeindemitglieder waren zu Fuss unterwegs, aber sie hatten Angst, die Synagoge zu betreten und standen abseits, weil etwa zehn Meter vom Eingang zum Innenhof der Synagoge entfernt Uniformierte auf der Strasse standen. Ich habe versucht, den Gemeindemitgliedern zu helfen, zur Synagoge zu gelangen.

Liebermann: Wie denn?
Chana: Das in der Psychologie bekannte Phänomen Paradoxe Intervention habe ich angewendet. Ich ging zu den Uniformierten hin und fing an, mit ihnen zu reden. Ich lud sie ein, den Innenhof der Synagoge zu betreten, um zu sehen, wie eine Sukka aussieht.

Liebermann: Und haben sie das gemacht?
Chana: Natürlich nicht. Es handelt sich hauptsächlich um Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau und um Feiglinge, die Angst vor ihren Vorgesetzten haben. Denn wenn sie selbst etwas falsch machen, werden sie bestraft. 
Aber meine Strategie funktionierte: während ich mit ihnen sprach, gingen unsere Gemeindemitglieder schnell zur Synagoge.

Liebermann: Hatten Sie Angst bei dieser Aktion?
Chana: Teilweise ja, es gibt immer ein Risiko. Aber ich habe gelernt, diese Uniformierten einzuschätzen.  Am schrecklichsten sind natürlich die Spezialeinheiten von Omon in Schwarz, sie gelten als gewalttätig und unberechenbar. Hier waren es aber junge Rekruten der Armee. Sie waren verwirrt und wussten nicht, wie sie auf meine Worte reagieren sollten.

Liebermann: Chana, bleibt Ihnen noch Zeit für Ihr privates Leben? 

Chana: Ich habe keine Freizeit. Nach der Arbeit kümmere ich mich um meine Tochter und dreimal wöchentlich lerne ich in einer online-Gruppe Hebräisch. Früher war es für uns üblich, einmal im Monat mit Freunden ins Kino zu gehen, dann irgendwo in einem Café oder einer Bar zu sitzen, aber jetzt ist es wegen der Pandemie und der gefährlichen Atmosphäre in der Stadt unmöglich. Es ist lebensbedrohlich, spät abends auszugehen – man kann jederzeit grundlos verhaftet werden.

Liebermann: Wie fühlen Sie sich als Jüdin im heutigen Belarus? Warum nehmen Sie an den Protesten teil?
Chana: Es ist mein Land. Ich bin hier geboren und hier aufgewachsen. Meine Freunde, meine Arbeit und meine Synagoge sind hier und ich will nicht ausreisen. Aber ich möchte in einem gerechten Belarus mit meiner Tochter leben.

Liebermann: Was hilft Ihnen, in einem solchen Umfeld Ihren Mut zu bewahren?
Chana: Ich fühle, dass wir nicht alleine auf der Welt sind. Ich hätte nie gedacht, dass es so wichtig ist zu wissen, dass jemand an Dich denkt und Dich nicht in einem schwierigen Moment fallen lässt. Wenn Videos von Solidaritätsdemonstrationen mit dem belarussischen Volk in sozialen Netzwerken gezeigt werden, ist das sehr hilfreich! 
Die Tatsache, dass unsere Frauen für den Friedensnobelpreis nominiert wurden, ist auch eine Anerkennung!  Natürlich darf man den Humor nicht verlieren und den Wein nicht austrinken, der für die Feier reserviert ist, wenn Lukaschenko zurücktritt.

Liebermann: Der letzte Witz?
Chana: Lukaschenko bereitet ein neues Dekret vor, um die Sonntage abzusagen.


Bella Liebermann ist Sozialpädagogin, Autorin und Sängerin der Gruppe Kol Colé. Sie hat familiäre Wurzeln in Belarus und studierte in Minsk an der Musikakademie. 1994 kam sie aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Bis heute hat sie enge Verbindungen nach Belarus. Ihr Roman Kupfermeer erschien im Herbst 2021 auf Deutsch.

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Alle Abbildungen: Bella Liebermann, mit freundlicher Genehmigung.

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Bella Liebermann, Kupfermeer.
Roman, 2021.