Ausgabe

Eine Ausnahme unter den österreichischen Emigrantenschicksalen Der Musiker Fritz Lunzer (1896–1970)

Anna Maria Grünfelder

Geehrt in der Zweiten Republik und im kommunistischen Jugoslawien.

Inhalt

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Miroslav Fritz Lunzer. Aus: Hrvatskoga biografskoga leksikona. Leksikografskoga zavoda Miroslav Krleža, Zagreb, mit freundlicher Genehmigung.

 

Nach der Besetzung Österreichs durch Hitlerdeutschland liessen sich schätzungsweise 3.000 nichtjugoslawische Jüdinnen und Juden aus den zwischen 1938 und 1941 von Hitlerdeutschland besetzten Ländern Europas in Jugoslawien nieder und wurden dort von der „Endlösung“ eingeholt. Nach Kriegsende wurden nur vereinzelte Überlebende registriert – zu wenige, als dass sie wie in anderen Exilländern hätten eine Exilkultur aufbauen können.  

Einer der wenigen österreichischen Überlebenden war der Wiener  Konzertsänger und Gesangspädagoge Fritz Lunzer, geboren am 26.10.1896 in Wien als Sohn von Wilhelm Lunzer (gest. 1928) und Eugenie, geb. Aufrichtig (gest. 1944, wahrscheinlich im Lager Theresienstadt ums Leben gekommen). Fritz Lunzer stellt unter den österreichischen Juden im Exil insofern eine seltene Erscheinung dar, als er nach 1945 sowohl in Jugoslawien als auch in Österreich seine Musikerkarriere fortsetzen konnte und zudem von beiden „Heimatländern“ hoch geehrt wurde. Alle Stationen seiner Laufbahn erfahren wir aus Fritz Lunzers Bewerbungsbogen für die Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien vom 14.10.1966; sein Emigrantenschicksal wiederum aus den Autobiographischen Notizen, die Fritz Lunzers Stiefsohn, der ehemalige Musikredakteur von Radio Zagreb Branko Polić verfasst hatte (vier Bände, Durieux Verlag, Zagreb 2004-2010).

Fritz Lunzer war 1938 bei zwei Fluchtversuchen in die Türkei von der Gestapo aus dem Zug geholt worden. Nach Zagreb gelangte er dank der Hilfe seines dortigen Bekannten Dr. Eduard Katz, einem Geschäftspartner des Direktors der Zagreber Diskontbank d.d. Artur Polić (1890-1960). Die musikliebende Familie Polić lud Lunzer als Musiker ein – so wie auch andere wohlhabende jüdische Familien Emigranten selbst nicht beherbergten, diese aber zum Mittagessen und in ihre Salons einluden. 

Arturs Frau Dana (geborene Fröhlich, assimiliert Frelić, 1895–1975), gebildet, aber aufgrund des „Standesdünkels“ ihres Ehemannes nicht berufstätig, war Gasthörerin von Vorlesungen des galizisch-österreichisch-französischen Schriftstellers und Individualpsychologen aus Wien Manés Sperber über Individualpsychologie und wurde von ihrem Ehemann deshalb als „Blaustrumpf“ belächelt. Mit Fritz Lunzer fand sie jene Gesprächsbasis, die sie bei ihrem Mann vermisste. Auch der musikliebende Sohn des Ehepaares, Branko, damals vierzehn Jahre alt, freundete sich mit Fritz Lunzer rasch an. Branko genoss die Anwesenheit von Lunzers Schülern Eva Hadrabova und Alois Pernerstorfer, die eigens nach Zagreb gekommen waren, um bei ihrem Lehrer Gesangsstunden zu nehmen. Der aufgeweckte Vierzehnjährige nahm bald wahr, dass Fritz Lunzer in seiner Familie eine immer grössere Rolle spielte. Gemeinsam mit ihm und seinen Schülern ging man zum Schiurlaub nach Slowenien und im Sommer an die Adria. Man war nicht ohne Sorge, denn auch in Jugoslawien wusste jedermann, wie es Juden unter der Naziherrschaft ging, verdrängte aber die Angst – wiewohl Weitsichtige damit rechneten, dass auch Jugoslawien Hitlers Expansionsdrang zum Opfer fallen würde.

Als Jugoslawien, mit dem nationalsozialistischen Deutschland seit 1933 durch Wirtschaftsabkommen immer enger verflochten, 1939 judenfeindliche Gesetze verabschiedete und die ausländischen jüdischen Flüchtlinge internierte, durfte Fritz Lunzer dank der Garantie der Familie Polić für ihn in Zagreb bleiben, statt in ein Internierungslager in der Provinz übersiedeln zu müssen. Wie aus einem Akt der von der Ustascha eingerichteten Requirierungskommission („Ponova“) hervorgeht, konnte Fritz Lunzer als Emigrant aus Österreich noch Teile seines beweglichen Eigentums nach Zagreb nachbringen lassen: Musikinstrumente (die nach Fritz Lunzers Ableben 1970 dem Zagreber Museum für Kunsthandwerk überlassen wurden), und nicht näher bezeichnete Bilder. 

Am 10. April 1941 liessen die Deutschen den Unabhängigen Staat Kroatien ausrufen, und die von ihnen eingesetzte Ustascha-Regierung begann sogleich mit der Enteignung und Verfolgung von Juden und Serben. Lunzer übergab seine Bilder einer nichtjüdischen Bekannten zur Verwahrung, um sie vor der Beschlagnahme durch die Ustascha zu retten. Nach Kriegsende verweigerte diese die Rückgabe, und nur mit der Drohung, sie als „Kriegsgewinnlerin“ bei der neuen kommunistischen Justiz anzuzeigen, konnte ihr Widerstand gebrochen werden. SS- und Gestapo-Männer vertrieben am 13. April 1941 (nur drei Tage nach der Ausrufung des Unabhängigen Staats Kroatien) die Familie Polić aus ihrer Villa; sie musste mit den anderen Zagreber Jüdinnen und Juden das mühsame Leben an der Stadtperipherie in einer kleinen Untermiete teilen. 
Artur Polić wurde mit anderen prominenteren und wohlhabenden Juden von der Ustascha verhaftet (um von ihnen die Herausgabe von Geld und Preziosen zu erpressen). Nur die Bemühungen der Angehörigen um seine Freilassung sowie die Hoffnung, Branko mit seinen 17 Jahren würde noch zur Gymnasialmatura zugelassen werden, hinderten Dana daran, in das von Italien besetzte Küstenland zu flüchten. Branko wurde jedoch aus dem Gymnasium ausgeschlossen. Im August entschloss sich Dana zur Flucht – mit Branko und mit Fritz Lunzer; der inzwischen freigelassene Vater konnte sich erst später dazu entschliessen. 

Fritz Lunzer war während der Zugfahrt aus Zagreb Richtung Rijeka nahe daran, von der kroatischen Ustascha-Miliz verhaftet zu werden. Er sprang aus dem fahrenden Zug und schlug sich durch den Gorski kotar bis an die Küste und von dort bis auf die Insel Krk durch. Dort stiess er wieder zu „seiner“ Familie. Ab Ende Oktober 1942 internierte die italienische Besatzungsmacht die auf ihr Territorium, die Zone II, geflüchteten Jüdinnen und Juden. Hintergrund dieser Aktion, die die Betroffenen schon die bevorstehende Auslieferung an die Deutschen befürchten liess, war jedoch das genaue Gegenteil. Die Deutschen forderten sowohl von der kroatischen Führung als auch vom verbündeten Italien die Vollstreckung der Wannsee-Beschlüsse: die Auslieferung aller Jüdinnen und Juden zur Deportation „nach dem Osten“. Italien versuchte, dem deutschen Druck auszuweichen und mit der Internierung der Juden in seiner Zone den Deutschen zu signalisieren: Auf unserem Territorium vollstrecken wir die „Lösung der Judenfrage“ selbst! Am 1. November 1942 wurden die rund 1.200 Juden des Küstenlandes, unter ihnen Fritz Lunzer und die Familie Polić, im italienischen Militärlager Kraljevica (ital. Porto Re) interniert. 

Jüdinnen und Juden aus Jugoslawien sowie Emigranten, Juristen, Kabarettkünstler, Lehrer und Lehrerinnen, Ärzte und Ärztinnen – alle arbeiteten zusammen, um die Lagerbedingungen erträglich zu gestalten und einander über ihre Sorgen um Angehörige hinwegzuhelfen. Als im Frühjahr 1943 die deutschen Offensiven gegen die kommunistischen Partisanen in Westkroatien auf das Küstenland überzugreifen drohten, konzentrierten die italienischen Besatzungsbehörden die Internierten von Kraljevica und die meisten der in Dalmatien in „freier Konfinierung“ Belassenen in Kampor (Insel Rab). 

Nach der Kapitulation Italiens am 8. April 1943 lösten die Internierten mithilfe örtlicher Kommunisten und Partisanen vom Festland das Lager auf: Fritz Lunzer und andere Haftkameraden mit militärischer Erfahrung (Lunzer hatte im Ersten Weltkrieg als Artillerieleutnant an der italienischen sowie der rumänischen Front gedient) hatten sich schon seit ihrer Ankunft auf Rab, als Nachrichten über den Abzug der Italiener von der Ostküste der Adria ins Lager drangen, politisch und militärisch auf die (Selbst)-Befreiung aus dem Lager und zur Teilnahme am Partisanen-Kampf auf dem Festland vorbereitet. Sofort nach der Auflösung des Lagers in Rab wurden dreihundertfünfzig wehrfähige Jüdinnen und Juden als „Raber Judenbataillon“ aufgestellt, das der Generalstab der Partisanen zum Teil auf Einheiten in der Lika beliess, zum Teil den slowenischen Partisanen-Einheiten zur Verfügung stellte. Der Generalstab rechnete damit, dass die zumeist unerfahrenen Mitglieder des Raber Judenbataillons, sollten sie den Ustaschi oder gar den Deutschen in die Hände fallen, gnadenlos aufgerieben würden. Fritz Lunzer und Dana wurden der Kultursektion des Antifaschistischen Rates zur Arbeit an der Küste eingeteilt, Branko betreute in solcher Funktion die Partisanen-Lazarette, Artur diente in einem Kampfverband. Fritz Lunzer war aber einer der wenigen ausländischen Juden in der Partisanen-Armee, die nicht den von den Briten angebotenen Abtransport nach Italien nutzten, sondern bis Jahresende 1945 in der Partisanen-Armee verblieben. Er wurde dafür 1945 mit dem Partisanen-Verdienstorden „1941“ ausgezeichnet. 

Im Dezember 1945 konnten Dana, mit der Fritz Lunzer 1944 in Topusko getraut worden war, sowie Branko die Armee verlassen und in ihre ehemals eigene Villa Polić zurückziehen. Aber bis 1945 waren die Polić arm wie die gesamte Bevölkerung; nur die UNRRA rettete sie vor dem Verhungern. Bis 1949 konnte es sich die Familie nicht leisten, zuhause zu kochen; alle Institutionen unterhielten für ihre Mitarbeiter öffentliche Küchen. Fritz Lunzer verkaufte noch 1952 eines seiner Klavikorde, ein historisches Instrument aus dem 18. Jahrhundert, an das Zagreber Museum für Kunsthandwerk, um seinem Stiefsohn den Abschluss des Studiums der Romanistik und Anglistik an der Universität Zagreb zu ermöglichen. Dana wurde 1945 in Zagreb zur amtsführenden Direktorin der Konzertdirektion Zagreb bestellt. Dies war eine Aufgabe, für die sie brannte und in der sie aufging, aber Neid und wiedererwachende Judenfeindschaft schlugen ihr entgegen. Hartnäckig wurde ihr eine Dauerstellung verweigert. Schliesslich gab sie auf, zermürbt von den Kampagnen gegen sie. Fritz, der sich in Miroslav umbenannte, wurde schon 1945 ans Staatliche Konservatorium in Zagreb berufen und bildete bis zu seinem Tod zahlreiche Sänger und Sängerinnen aus, die internationale Karrieren schafften (im Anhang zum Bewerbungsbogen findet sich die Liste der von Fritz Lunzer betreuten Sängerinnen und Sänger, sowie der in- und ausländischen Opernhäuser, an denen jene auftraten). Den Auszeichungen nach zu schliessen wurde Lunzer in Jugoslawien akzeptiert, er aber glaubte den aus Antisemitismus gespeisten „Brotneid“ seiner Zagreber Kollegen– wie dieser auch Dana entgegenschlug – und seine Isolation zu spüren. 

Im Jahre 1955 nahm Fritz den Sommerkurs am Mozarteum in Salzburg auf, 1958 verlieh ihm Bundespräsident Theodor Körner den Professorentitel. In der Folge erfuhr er für seine gesangspädagogische Arbeit Ehrungen. Auch der Opferstatus wurde ihm von den Wiener Stellen zuerkannt. 1966 erfüllte sich sein Traum: Er erhielt einen Lehrauftrag für Stimmbildung an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Doch 1968 legte er ihn zurück, denn er wollte nach Zagreb zurück, um seiner Frau bei ihrer Parkinson-Erkrankung zur Seite zu stehen. 

Im Falle von Fritz Lunzer wurde das offizielle Österreich seiner Verantwortung für die Schicksale der jüdischen Emigrantinnen und Emigranten gerecht – es war eine der wenigen Ausnahmen. Insgesamt aber überwogen in Emigrantenkreisen Enttäuschungen und Verbitterung, und erst die nachfolgenden Generationen machten das Verhalten ihrer Elterngeneration gut.