Eine zentrale Aktivität der WIZO (Women‘s International Zionist Organisation) im Jahr 1935 war die Produktion eines Bahrtuches (hebr. Parochet) für die Überführung von Theodor Herzls Leichnam aus Wien nach Jerusalem.
Theodor Herzls Parochet, angefertigt auf Initiative der WIZO 1935.
Mit freundlicher
Genehmigung D. Hecht.
Darüber berichtete Sofie Löwenherz (1890–1981) als Präsidentin der WIZO Folgendes:
„In den letzten Wochen verwirklichten wir einen schönen Plan, welcher mit der Überführung der Gebeine Herzls nach Erez im Zusammenhang steht. Jüdische Frauenhände webten und bestickten nach Entwürfen des leider zu frühzeitig verstorbenen Prof. Strnad das Bahrtuch, in welches gehüllt der Sarg mit den sterblichen Resten des unsterblichen Herzl nach Palästina überführt werden soll.“1
Seit Theodor Herzls Tod 1904 gab es Überlegungen, Herzls Gebeine von Wien nach Palästina zu überführen, wie der Gründer des Politischen Zionismus dies verfügt hatte. Schon im August 1904, einen Monat nach Herzls Tod, hatte der Jurist und Verwalter des Herzl-Archivs Sammy Gronemann (1875–1952) eine Kurzgeschichte mit dem Titel Theodor Herzls Heimkehr verfasst, in welcher er die Überführung des Sarges nach Eretz Israel als Apotheose Herzls und Erlösung des jüdischen Volkes inszenierte.2 Während Gronemann den fiktiven Begräbnisort unbestimmt lässt, wurde der Ort der zukünftigen Grabstätte in der zionistischen Politik lange Zeit heftig diskutiert. Gemäss einem von Herzl zu Lebzeiten mündlich geäusserten Wunsch galt der Berg Karmel bei Haifa als Favorit;3 nach der Staatsgründung setzte sich jedoch Jerusalem durch. Mitte der 1930er Jahre waren die diesbezüglichen Diskussionen und Entschlüsse des Zionistischen Weltkongresses bereits weit gediehen, weshalb ein Bahrtuch für die Überführung des Sarges angefertigt werden sollte.
Die Idee stammte von Else Grünbaum (1882–1949), der Frau des Präsidenten der Zionistischen Landesorganisation Oskar Grünbaum. Den Entwurf verfertigte der Architekt Oskar Strnad (1879–1935), gewebt wurde das Bahrtuch von der bekannten Kunstgewerbelehrerin Ida Kruh (1883–1942, Sobibor), die ihre Werke zuvor unter anderem gemeinsam mit Josef Hoffmann ausgestellt hatte. Die Stickereien stammen aus dem Atelier Geschwister Arzt, die Auswahl der auf das Bahrtuch gestickten Textstellen traf Viktor Kellner.4
Eine Teilabbildung des Bahrtuchs publizierte Tulo Nussenblatt bereits im Jahr 1937 in seinem Theodor Herzl Jahrbuch. Max Eisler verfasste einen kurzen Beitrag über die Herstellung. Laut Eisler wandten sich die WIZO Frauen wegen eines Entwurfes an Oskar Strnad.
Den Text verfasste der Thora-Schreiber Arthur Weisz:
„So wurde es eine starke Webe in drei waagrechten Streifen: hellgrau, blau und hellgrau. Auf dem mittleren, blauen Streifen erschienen in weissem Atlas, mit dem Tuch vernäht, sieben Sterne, das Sinnbild des siebenstündigen Arbeitstages, wie ihn Herzl für das jüdische Land geplant hatte, daneben der Löwe Judas im Magen David. Die heraldische Form des steigenden Löwen bereitet schon auf das Ornament der hebräischen Schrift [vor], das – schwarz auf gelb gestickt – oben den biblischen Spruch aus Ezechiel und Psalmen, unten das Zitat aus den Schriften Herzls zeigt.“5
Hugo Gold publizierte in seiner Zeitschrift für die Geschichte der Juden im Jahr 1964 eine kurze Geschichte des Bahrtuches und dessen Rettung vor den Nationalsozialisten. Laut Gold spielte Jehuda Leon Schraga, Sekretär der Zionistischen Sektion Leopoldstadt und Mitglied des Präsidiums des Jüdischen Nationalfonds (Keren Kayemet Le‘Israel, KKL), eine entscheidende Rolle. Dieser suchte bei Adolf Eichmann erfolglos um die Genehmigung an, das Bahrtuch nach Palästina bringen zu dürfen. Auf Befehl Eichmanns sollte er das Bahrtuch dem Palästina-Amt übergeben. Nach Rücksprache mit dem Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Josef Löwenherz, hinterlegte Schraga dort statt der oben beschriebenen Parochet ein Bahrtuch der Chewra Kadischa, der jüdischen Beerdigungsbruderschaft. Herzls Bahrtuch dagegen nahm Schraga bei seiner eigenen Emigration 1939 nach Palästina mit.
Schraga arbeitete in den folgenden Jahren in Haifa für den Keren Hajessod (Vereinigte Israel Aktion). Im Jahr 1940 übergab eine Delegation von Jüdinnen und Juden aus Österreich, darunter Else und Oskar Grünbaum (später Jehoschua Guvrin) sowie Jehuda Schraga, das Bahrtuch an Menachem Ussischkin, den Präsidenten des Jüdischen Nationalfonds.6 Bei der Überführung von Herzls Gebeinen nach Jerusalem im Jahr 1949 bedeckte dieses Bahrtuch den Sarg, wie der erhaltene Dokumentarfilm, der in der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Wien zu sehen ist, eindrucksvoll belegt.
Theodor Herzls Überführung nach Israel
Ein ausführlicher Bericht über die Exhumierung und Überführung ist vom damaligen Oberrabbiner Akiba Eisenberg erhalten. Laut Eisenberg wurden die Särge von Theodor Herzl und seiner Eltern am 14. August 1949 am Döblinger Friedhof exhumiert und im Stadttempel aufgebahrt. Am nächsten Tag fand ein Abschiedsg‘ttesdienst statt, der aufgrund des grossen Andrangs über Lautsprecher in die Seitengasse übertragen werden musste. In seiner Predigt verglich Akiba Eisenberg die Bedeutung der Überführung Herzls mit der Wanderung durch die Wüste und der Mitnahme von Josefs Sarg.7
Am selben Abend war unter Beteiligung der österreichischen Regierung eine Veranstaltung im Grossen Saal des Konzerthauses angesetzt, wo auch Isidor Schalit sprach, ein ehemaliger Mitstreiter Herzls und Sonderbeauftragter der israelischen Regierung. Am Abend des 15. August 1949 wurden die Särge am Tullner Flugplatz, der unter amerikanischer Oberhoheit stand,8 von der israelischen Delegation übernommen und nach Israel gebracht. Bis zum Tullner Flugplatz waren die Särge mit israelischen Fahnen verhüllt. In Tulln bedeckte die israelische Delegation, die wegen Schlechtwetters mit einem Tag Verspätung ankam, Herzls Sarg mit der mitgebrachten Parochet, welche die WIZO seinerzeit angefertigt hatte.
Die Parochet blieb auch während der Zeremonien in Israel auf Herzls Sarg. Nach der Beisetzung von Herzl in Jerusalem gelangte die Parochet ins Archiv des Keren Kayemet Le’Israel, wo sie in Vergessenheit geriet. Erst Anfang August 2019 wurde die Parochet wiederentdeckt.9 Die doppelte Bedeutung der Parochet im zionistischen Narrativ wie auch für die jüdische Geschichte Österreichs erweist sich an der Tatsache, dass sowohl das Herzl-Museum in Jerusalem als auch das Jüdische Museum Wien jeweils eine Kopie anfertigen haben lassen. Das Herzl-Museum stellte es in den Kontext des 70-jährigen Jubiläums von Herzls Überführung nach Jerusalem. Das Jüdische Museum Wien präsentierte die Kopie im Jahr 2020 in der Ausstellung zum Hundertjahr-Jubiläum der WIZO.
Anmerkungen
1 Die Stimme, 19.11.1935, 8.
2 Jan Kühne, Theodor Herzls „Heimkehr“, in: Bettina Bannasch/Michael Rupp (Hg.), Rückkehrerzählungen. Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben, Göttingen 2018, 15–33.
3 Ebd., 17.
4 Der Wiener Tag, 11.1.1935, 4. Die Stimme, 20.12.1935, 7; 21.2.1936, 4. Zum Todesjahr von Elsa Grünbaum vgl. https://www.evel.co.il/home/doc.aspx?mCatID=72&mode=s&f33a=01/01/1900&Page=1629 (7.9.2020).
5 Max Eisler, Das Bahrtuch für die Überführung der Gebeine Herzls, in: Tulo Nussenblatt (Hg.), Theodor Herzl Jahrbuch, Wien 1937, 306; Abbildung 285.
6 Zeitschrift für die Geschichte der Juden 2 (1964), 127, 129. Zu Schraga vgl. Hugo Gold, Die Geschichte der Juden in Wien, Tel Aviv 1966, 51–152. Zu Grünbaum/Guvrin vgl. Johannes Koll, Wider den Antisemitismus an Österreichs Hochschulen. Eine vergessene Denkschrift aus dem Jahr 1930, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63/5 (Berlin 2015), 457-462.
7 Akiba Eisenberg, Die Heimführung der Gebeine Herzls aus dem Stadttempel, in: Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.), 150 Jahre Wiener Stadttempel, Wien 1978, 37–49, 45. Zur Überführung von Herzl vgl. Evelyn Adunka, Die Vierte Gemeinde. Die Wiener Juden in der Zeit von 1945 bis heute, Berlin 2000, 101–107.
8 Hubert Prigl, Die Geschichte des Fliegerhorstes Langenlebarn von 1936–2000, Kurzversion aus der Dissertation, Teil VIII, https://www.gotech.at/lale8/langenlebarn_8.html (7.6.2020).
9 https://www.israelhayom.co.il/ article/680613 (25.8.2019).