Berthold Schäffner
Rachel Jedinak: Wir waren nur Kinder.
Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2024.
96 Seiten, Euro 18,00.-
ISBN: 978-3627003241
Rachel Jedinak, die inzwischen 90-Jährige, erlebte und überlebte die Massenverhaftung der Juden in Paris am 16./17. Juli 1942. Sie ist Zeitzeugin der grauenhaften Verfolgung und erzählt ihre Lebensgeschichte von Kindheit an. Seit über 20 Jahren erinnert sie, die Vorsitzende des Tlemcen-Komitees, an all die verschwundenen Kinder, sie sorgt dafür, dass Gedenktafeln an Schulen darauf hinweisen. Mit dieser berührenden Erzählung „erweist sie diesen vergessenen Schülern eine letzte Ehre.“
Ihre Kindheit verbringt sie im 20. Arrondissement zwischen Père Lachaise und dem Parc de Belleville in Paris. Diese Gegend ist für sie ein „Königreich“, sie fühlt sich wohl, liebt ihre zärtlichen Eltern, ihre ganze Familie besteht aus Liebe. Im Alter von fünf Jahren kann sie schon Buchstaben lesen und erfährt so von einem Plakat von der „Mobilisation Générale“. Ihr Vater meldet sich sogar freiwillig und ohne Angst, um gegen Deutschland in den Kampf zu ziehen. Vorerst ist es nur ein „Sitzkrieg“ ohne Kampfhandlungen. Ende 1939 erlebt Rachel dann noch erste Bombenalarme. Wegen des „Blitzkrieges“ fliehen viele Familien aus Paris. Das Mädchen erlebt einen ersten Flugzeugangriff. Die politische Lage führt dazu, dass die Familie wieder nach Paris zurückzieht, wo am 14. Juni deutsche Truppen einmarschieren. Rachel bekommt die Not des Krieges mit, zum Beispiel gibt es jetzt Bezugsscheine fürs alltägliche Einkaufen.
Im Mai 1941 soll sich ihr Vater „nur per forma“ bei der Polizei melden. Er kommt aber Hals über Kopf in ein Arbeitslager. Für seine Familie besteht die Möglichkeit, den Vater zu „besuchen“. Er könnte vielleicht sogar fliehen – aber dann würde seine Familie brutal verfolgt werden. Er bleibt deshalb lieber im Lager („Das war ein letztes Zeichen seiner Liebe zu uns“). 1942 wird er nach Auschwitz deportiert.
In Paris werden jetzt jüdische Geschäfte geschlossen und aus den leerstehenden Häusern Möbel, Kleidung, Geschirr und Erinnerungsstücke geplündert. Juden müssen einen Judenstern tragen. Bisher befreundete Mitschüler spielen nicht mehr mit Rachel („Der Stern hatte unsere Gruppe mit einer imaginären Linie getrennt“.
Als Rachel acht Jahre alt ist, findet die Verhaftung von 13.152 Juden in Paris statt. Die Mutter kommt in ein Internierungslager, Rachel und ihre Schwester verstecken sich bei den Grosseltern. Es ist den Kindern möglich, ihre Mutter hinter dem Stacheldraht ausfindig zu machen. Der dritte Sichtkontakt ist der letzte, denn an diesem Tag fahren die Busse, in die auch ihre Mutter eingepfercht ist, nach Auschwitz. Aus dem Bus heraus gibt sie Handzeichen „Verschwindet!“ „Diese kleinen schlagenden Handbewegungen waren ihr letztes Zeichen der Liebe. Uns abzuweisen, damit wir uns retten konnten.“
Für Rachel Jedinak ist neben ihrer Aufklärungsarbeit an Schulen wichtig, dass der französische Staat unter Präsident Jacques Chirac 1995 endlich seine Mitschuld durch das Regime von Maréchal Philippe Pétain offiziell anerkannt hat.