Stefan Zweig bearbeitete in seiner Novelle „Der begrabene Leuchter“ eine jüdische Legende. Das Werk gewährt tiefe Einblicke in die innere Verfasstheit des Autors.
Zum Verständnis des Werkes ist eine Beschäftigung mit der Biografie des Autors unumgänglich. Stefan Zweig wurde in Wien am 28.11.1881 als zweiter Sohn des Textilfabrikanten Moritz Zweig und seiner Frau Ida, geborene Brettauer in eine wirtschaftlich gesicherte, akkulturierte jüdische Familie, wie sie für das späte 19. Jahrhundert typisch war, geboren. Er wuchs in den grossbürgerlichen Wohnungen zuerst am Schottenring, später in der Rathausstrasse auf, die Zentrale der väterlichen Wirkwarenfabrik befand sich am Schottenring 32, dort, wo heute der Ringturm steht. Die Familie war nicht religiös, Zweig bezeichnete sich später in origineller Weise als „Jude aus Zufall“. Er maturierte 1899 am Gymnasium Wasagasse und studierte anschliessend an der Universität Wien Philosophie und Romanistik. Im Jahre 1904 wurde er nach einer Dissertation über die Philosophie von Hippolyte Taine promoviert. Parallel zu seinen Studien schrieb er Gedichte, Novellen und Essays und betätigte sich auch als Übersetzer der Werke von Paul Verlaine, Charles Baudelaire oder Emile Verhaeren. Von Bedeutung ist die Zusammenarbeit mit Theodor Herzl, damals Feuilleton-Leiter der führenden Wiener Zeitung, der Neuen Freien Presse. Herzl, Schriftsteller, Journalist und Begründer des Politischen Zionismus, förderte den jungen Schriftsteller, wenngleich sich Zweig zum damaligen Zeitpunkt für die neue Bewegung – eine nationale Wiederbelebung des Judentums in Palästina – nicht begeistern konnte. Wichtig war Zweigs Freundschaft mit Anton Kippenberg, von 1905 bis 1950 Leiter des noch heute bestehenden Insel-Verlages, der seine Werke bis zum Verbot 1935 veröffentlichte. Zweig pflegte einen gehobenen Lebensstil und reiste sehr viel, wobei ihn das bis Indien beziehungsweise auch nach Amerika führte. Er unterhielt Freundschaften mit zahllosen bedeutenden Künstlern und Schriftstellern und führte mit ihnen umfangreiche Korrespondenzen. [1]
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Zweig für untauglich erklärt, hielt es allerdings für unerträglich, keinerlei militärische Pflichten auszuüben und schaffte es schliesslich, dank Vermittlung eines seiner Freunde, im Kriegsarchiv unterzukommen, in dem auch andere Schriftsteller dienten, wie zum Beispiel Rainer Maria Rilke, Alfred Polgar, Franz Werfel oder Sándor Friedrich Rosenfeld (besser bekannt unter seinem Pseudonym Alexander Roda Roda).[2] Zwiespältig ist Zweigs Einstellung zum Krieg: In einem Essay im Berliner Tagblatt vom 19.9.1914 („An die Freunde im Fremdland“) schlug er vorerst Töne an, in denen Ruhm und Grösse der deutschen Nation, nationale Grösse, moralische Tatkraft und sittliche Energie gepriesen werden. Auch dürfe „…Österreich auf die Stossgewalt Deutschlands im Kriege vertrauen.“ [3] Zweigs Freund, der französische Schriftsteller Romain Rolland (1866 – 1944), Nobelpreisträger und erklärter Pazifist, war begreiflicherweise entsetzt über diese Haltung, die Zweig allerdings rasch revidierte. Im Auftrag des Archivs unternahm er eine Reise nach Galizien im Juli 1915 und erschrak über das dort vorgefundene Elend der jüdischen Bevölkerung, was sich in der Folge auch in seinem literarischen Werk zeigte. [4] Nach dem Krieg heiratete Zweig seine erste Frau Friederike geb. Burger und zog mit dieser im Jahre 1920 aus dem multikulturellen und toleranten Wien (kurz zuvor noch Hauptstadt eines Vielvölkerreiches!) weg, von welchem er sagte „nirgends war es leichter, ein Europäer zu sein“[5] Er zog also in das viel kleinere, damals noch sehr provinzielle Salzburg, an den Rand Österreichs, von dem es sich – damals wie heute – viel leichter nach Deutschland, Italien, in die Schweiz reisen liess. Hier begann sein literarischer Welterfolg, der sich zuvor in Wien noch nicht eingestellt hatte.
Im Sommer 1920 fanden die ersten Salzburger Festspiele statt. Bemerkenswerterweise kam es zu keiner Zusammenarbeit mit den Initiatoren Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt, mit denen Zweig sehr wohl bekannt war. Hofmannsthal dürfte seine Mitwirkung verhindert haben. Einerseits entfaltete Zweig wieder eine intensive Reisetätigkeit, umgab sich aber auch in seinem neuen Domizil wieder mit zahlreichen Schriftstellerfreunden. Die Zweigs verliebten sich in ein heruntergekommenes, ehemaliges erzbischöfliches Jagdschlösschen auf dem Kapuzinerberg, das sie renovierten. Bei den Ehegatten Zweig gingen zahllose Grössen aus Literatur und Musik aus und ein: Rabindranath Tagore, Thomas Mann, H.G. Wells, Jakob Wassermann, James Joyce, Paul Valery, Franz Werfel, Scholem Asch, Arthur Schnitzler, Hugo von Hoffmannsthal, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Maurice Ravel, Alban Berg, Bruno Walter oder Arturo Toscanini.[6] Es entstanden hier viele jener Werke, für welche Zweig in der Vorstellung literaturaffiner Leser eigentlich steht: Sternstunden der Menschheit, Verwirrung der Gefühle (beide 1927) und biografische Schriften, wie beispielsweise Romain Roland. Der Mann und das Werk, Drei Dichter ihres Lebens. Casanova. Stendhal, Tolstoi, Josef Fouché. Bildnis eines politischen Menschen, Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters, und andere (alle zwischen 1921 und 1932). [7]
Schon ab dem Jahr 1933 mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland wurde das Dasein der Zweigs in Salzburg immer weniger erträglich, zeigte doch ein Grossteil der Salzburger Bürger Sympathie für einen baldigen „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland, daneben war ein immer stärkeres Hervortreten des auch zuvor schon erlebten Antisemitismus zu verspüren. Im Februar 1934 wurde Zweig verdächtigt, in seinem Haus Waffen des sozialdemokratischen Schutzbundes versteckt zu halten. Es kam zu einer Hausdurchsuchung durch die Polizei, was Zweig veranlasste, Salzburg zu verlassen und vorerst nach London zu ziehen. Bereits 1934 wurde die deutsche Emigrantin Lotte Altmann seine Sekretärin, die er nach seiner Scheidung von Friederike im Jahr 1938 auch ehelichte. 1939 wurde ein gemeinsames Haus in Bath erworben, sein „Ersatz-Salzburg“. Das Glück dort selbst währte nur kurz. Im Juli 1940 machte die immer stärker werdende Bedrohung durch Nazi-Deutschland ihnen Angst, daher verliessen die Zweigs Europa und gingen vorerst in die U.S.A. und dann nach Brasilien. [8]
Das Jahr 1933 mit der Errichtung der NS-Diktatur in Deutschland brachte auch für Zweig als Autor eine entscheidende Wende, durften doch seine Bücher nicht mehr verkauft werden. Als letztes war im Insel-Verlag 1932 noch die Marie Antoinette-Biografie erschienen. Bei seinem neuen österreichischen Verleger, Herbert Reichner, wurden danach die Biografien von Erasmus von Rotterdam und von Maria Stuart herausgebracht, sowie einige frühere Werke neu aufgelegt. Im Zuge der Veröffentlichung weiterer Bände mit Erzählungen und Novellen wurde 1936 auch die Legende vom begrabenen Leuchter veröffentlicht, mit welcher sich Zweig am weitesten der jüdischen Kultur und Tradition annäherte. [9] Besonders hart traf Zweig der Umstand, dass im April 1938, also kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich, in der Stadt Salzburg seine Werke auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Auch fanden diese im deutschsprachigen Raum keinen Absatz mehr. Ein halbwegs gesichertes Auskommen hatte Zweig trotzdem, da seine erfolgreichen Werke zwischenzeitig in viele Sprachen übersetzt worden waren und international Verbreitung fanden. Zweig selbst war nunmehr nach Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft staatenlos. In den Exilverlagen Allert de Lange in Amsterdam und Berman-Fischer in Stockholm veröffentlichte er seinen einzigen Roman, Ungeduld des Herzens. Kurz darauf begann er mit der Arbeit an seiner Autobiografie Die Welt von gestern und der Biografie über Honoré de Balzac – beide Werke standen im Mittelpunkt seines Schaffens bis zu seinem Tod.[10] Trotz seiner durchaus erfolgreichen Vortragstätigkeit in den U.S.A. und auch in Südamerika vor grossem Publikum verschlimmerte sich die bereits depressive Stimmung des Autors immer mehr. Der kulturelle Kontext Europas, der seinerzeit Grundlage für seine Arbeit und Geisteshaltung gewesen war, wurde durch NS-Terror und Zweiten Weltkrieg immer weiter demoliert. Die kulturelle Atmosphäre der Vereinigten Staaten sagte Zweig überhaupt nicht zu. Er fühlte sich vielmehr von Brasilien angezogen, weil ihm dessen Gesellschaft frei von Rassendenken erschien. Er veröffentlichte das Buch Brasilien, Land der Zukunft. Als Schlusspunkt seines erzählerischen Werkes entstand die berühmte Schachnovelle, die erst posthum veröffentlicht wurde. Der Autor stellte noch Die Welt von gestern fertig. Abgeschnitten von allen früheren Bezugspunkten und sozialen Bindungen, trat eine starke Beeinträchtigung seines Gemüts ein, welche auch noch durch den schlechten Gesundheitszustand seiner zweiten Frau Lotte, die an schwerem Asthma litt, verstärkt wurde. Zu Beginn des Jahres 1942 reifte bei beiden der Entschluss zum Suizid, nicht unähnlich dem Vorbild Heinrich von Kleists, der sich gemeinsam mit einer schwer Krebskranken das Leben genommen hatte. Wie sich aus seinem in portugiesischer Sprache als „Declaracâo“ übertitelten Abschiedsbrief ergibt, waren Zweigs Kräfte aufgrund der Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa und die Vertreibung erschöpft; zu dem ihm notwendig erscheinenden Neubeginn fühlte er sich nicht mehr imstande.[11] In der Nacht vom 22. auf 23.2.1942 nahmen sich Zweig und seine Frau Lotte in Petropolis, Brasilien mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.[12]
Werkübersicht
Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem damit verbundenen Fallen der Publikationsschranken in seiner Heimat, aber auch in den anderen europäischen Ländern, konnten die ohnedies bereits vielfach übersetzten Werke Zweigs wieder erscheinen. Das international neu erwachte Interesse an seinen Schriften ist bis heute ungebrochen. [13] Das Oeuvre ist weitläufig, umfasst neben dem einzigen Roman zahlreiche Biografien berühmter Persönlichkeiten, Geschichtsnovellen und Erzählungssammlungen – historische Miniaturen, wie er diese selbst nennt – Theaterstücke und auch Übersetzungen. Die Veröffentlichungsdaten zeigen, dass es ab 1910 kein Jahr gab, in dem er nicht zumindest ein, meist aber mehrere Werke oder Sammlungen veröffentlichte, was von grossem Arbeitseifer und einer enormen produktiven Tätigkeit zeugt. Bemerkenswert ist, dass eine Gesamtausgabe seiner Werke derzeit nur als E-book existiert (und selbst in dieser fehlen erstaunlicherweise einige bedeutende Bücher).
Zweigs „überreligiöse Gläubigkeit“
Zweig selbst behauptet von sich, dass er „dem gelebten Judentum fernstehe“, das heisst, er besuchte nur selten Synagogen und war alles andere als ein ernsthaft praktizierender Gläubiger. Wie schon erwähnt, sah er es als reinen Zufall an, als Jude geboren worden zu sein, es habe für ihn aber keine persönliche kulturelle oder politische Bedeutung.[14] Tatsächlich sah es wohl anders aus, Zweig empfand sich sehr wohl als Teil der Diaspora und drückte dies auch wörtlich in einem Artikel für die Bayrisch-Israelitische Gemeindezeitung unter dem Titel Das Jüdische in meinem Wesen und Schaffen so aus:
„[…] noch geistern die 2000 Jahre Wanderschaft vorzeitiger Geschlechter mir in den Adern“. [15]
Weiter bezeichnete er als sein einziges jüdisches Erbteil „den Mangel an Heimatgefühl“, was ihn allerdings keine Grenze innerhalb Europas empfinden liess, sodass er sich in Paris wie in Rom oder in Deutschland gleichermassen zuhause fühlte. Man könnte daher fragen, ob eher ein „guter Europäer“ oder ein „guter Jude“ war.[16] Da jüdische Kulturgeschichte in Europa nur als Teil der europäischen Geschichte verstanden werden kann, ist Zweig ein herausragendes Symbol für einen Juden und Europäer, der europäischer Jude, jüdischer Europäer und Europäer als Jude zugleich ist. [17]
Sowohl in früheren Biografien, als auch direkt aus seinem umfangreichen Oeuvre heraus, wird Zweig als ein Schriftsteller gesehen, dessen Europäertum ganz stark im Vordergrund steht; seine jüdische Zugehörigkeit wird mehr oder minder vernachlässigt. In seinen „Memoiren“ Die Welt von gestern bezeichnet er sich im Vorwort „als Österreicher, als Juden, als Schriftsteller, als Humanisten und als Pazifisten“, womit eigentlich alles gesagt ist.[18] Zweig hatte sich ein Europa als eigentliche Heimat erwählt, welches bald darauf in verschiedenste Ausprägungen von Diktaturen und schliesslich in Schutt und Asche als Folge des bis dahin verheerendsten Krieges zerfiel. In der Biografie seines Freundes Romain Roland nennt er den Vaterlandslosen als Vorbild des zukünftigen guten Europäers. Tatsächlich beschäftigte er sich zeitlebens mit dem Judentum, jüdischen Themen, jüdischer Geschichte und Tradition und pflegte intensiven Kontakt mit jüdischen Schriftstellern und Intellektuellen. Für ihn waren jüdische Literatur und Kultur nicht durch nationalkulturelle Zugehörigkeit geprägt, sondern universal, kosmopolitisch, extraterritorial und transanational.[19] Trotz seiner Mitarbeit in der Redaktion Theodor Herzls stand er dessen Zionismus-Idee und -politik ursprünglich ablehnend gegenüber. Wohl lobte er diesen, aber als schöpferische Idee: in Form der Wiederbelebung jüdischer Kultur in der Diaspora, also einer Art Kulturzionismus im Sinne Martin Bubers.[20] Bemerkenswert ist, dass Zweig in der Öffentlichkeit eine durchaus pro-zionistische Meinung vertrat:
„[…] in Palästina – in der Idee: Palästina hat das jüdische Volk seit Jahrhunderten wieder sich selbst gefunden. Nur dank dieses inneren Aufbaus wird es diese Zeit der furchtbarsten Prüfung zu überstehen vermögen.“[21]
Er befürwortete zwar den jüdischen Idealismus, der hinter der zionistischen Bewegung stand, verstand diesen aber vorwiegend als moralische Leistung. Tatsächlich kritisierte er jede Art von Nationalismus als verbrecherischen Ungeist. In einem Schreiben an Arnold Zweig aus dem Jahr 1938 meint er, das zionistische Unternehmen sei eine Sentimentalität, ein unpraktischer, abenteuerlicher Fehler, der negative Auswirkungen auf das Judentum habe:
„Auch Palästina war eine Sentimentalität, ein Antilogismus […] Palästina kann nicht mehr von dem verarmten und erschöpften Judentum weiter getragen und subventioniert werden – vermag es sich trotz der ungezählten investierten Millionen an Spenden nach 25 Jahren nicht selbst zu erhalten, dann muss man diese Position eben lösen oder einschränken […].“ [22]
Es mag sein, dass Zweig angesichts der bedrohten jüdischen Massen und zahllosen Flüchtlinge die territoriale Lösung als beste Antwort sah, jedoch meinte, dass, sofern die gefährdeten mitteleuropäischen und auch osteuropäischen Juden Zuflucht in Afrika oder Südamerika gefunden hätten, dieser Variante der Vorzug zu geben wäre. Der Autor ist somit zwar dem Judentum tief verbunden, aber keiner parteilichen oder ideologisch ausgerichteten Bewegung verpflichtet; er ist vielmehr ein liberal eingestellter Individualist, der „überreligiöse Gläubigkeit“ und „übernationale Orientierung“ als Werte des Jüdischen als vorrangig ansieht. Im Jahr 1937 sagte Zweig jedenfalls in einem Brief:
„Aber ich möchte doch nicht, dass das Judentum aus seiner Universalität und Übernationalität sich ganz ins Hebräische und Nationale einkrustet […] ich glaube, dass das Jüdische und das Menschliche doch immer identisch bleiben muss“.[23]
In diesem Brief an Alfred Wolf schreibt er auch, dass „Die ganze Welt zum Tempel“ werde. Zielrichtung des Wanderns sei G’tt, die eigentliche Heimstatt, in dem das Judentum aufgehe. Zweigs Konzeption des jüdischen und des irdischen Volkes ist von drei Vorstellungen bestimmt, nämlich vom
dauerhaften unbegreiflichen Wesen des unsichtbaren und unverfügbaren G’ttes, ferner von der Erfahrung der Prüfung und des Leidens zum Zwecke der Erneuerung sowie vom Verständnis des jüdischen Volkes von seinem Schicksal als Wandervolk ist gleich G’ttesvolk. [24]
Die jüdische Heimatlosigkeit wurde von ihm als befreiender Übernationalismus gedeutet und das Leiden als moralische Erlösung.[25] Allerdings sagt er in einem seiner zahllosen Briefe:
„Ich will mich nicht festlegen auf eine Meinung über das Judentum, manchmal flutets in mir und manchmal ebbt es zurück“[26]
Schriften zum Judentum
Es geht im Folgenden nicht um Zweigs Beiträge und Essays in diversen Zeitschriften, sondern um das Drama Jeremias und Zweigs jüdische Novellen. Diese lassen sich weder in den „Kanon der assimilativ-liberalen deutsch-jüdischen Literatur noch in jenen der dissimilativen zionistischen Literatur der jüdischen Renaissance einreihen.“[27] Bereits als junger Literat zeigte Zweig das Streben nach einem Aufstieg in eine höhere kulturelle Schicht, wie er selbst in der Welt von gestern darlegt. Er nahm an den jungjüdischen Diskussionsabenden an der Wiener Universität unter der Ägide von Martin Buber teil und verkehrte mit bereits arrivierten, akkulturierten jüdischen Schriftstellern wie Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann. 1901 erschien in der von Buber herausgegebenen zionistischen Zeitschrift Die Welt die Erzählung Im Schnee.[28] Diese schildert das Schicksal einer jüdischen Gemeinde zur Zeit der mittelalterlichen Flagellanten-Umzüge. Die Juden verlassen, um Chanukka zu feiern, ihre kleine deutsche Stadt nahe der polnischen Grenze aus Angst und bringen sich vor gewalttätigen Ausschreitungen in Sicherheit. Der von ihnen als Wille G’ttes angenommene Exodus führt aber nicht in ein gelobtes Land, sondern in einen Schneesturm, in dem sie allesamt den Tod finden. Trotz der romantischen Erzählform wird hier ein sehr aktueller historischer Aspekt dramatisch zum Ausdruck gebracht, nämlich die Massenmigration osteuropäischer Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Folge von Pogromen in Polen, Litauen, in der Ukraine, in Weissrussland sowie nach der Dreifuss-Affäre in Frankreich. Der tragische Hintergrund sollte wohl die jüngere Generation anspornen, die aussichtslose Opfermentalität der Älteren zu kontrastieren.[29] Die Geschichte hat ein offenes Ende. Der Traum des sterbenden Protagonisten Joshua, der zum letzten Mal den goldenen Leuchter brennen sieht, lässt an die ewige Wanderschaft als einzig rettende Hoffnung denken, Motive, die Zweig in späteren Werken wie im Drama Jeremias beziehungsweise im Begrabenen Leuchter wiederholt.[30] In Die Wunder des Lebens (1903) greift der Autor auf die religiöse Geschichte der Juden im Europa des 16. Jahrhunderts zurück. Es geht hier um die Koexistenz zwischen Christen und Juden, die – wie so oft – für Letztere in einer Katastrophe endet.
Titusbogen Rom, Ausschnitt. Kopie, Beth Hatefutsoth. Foto: Steerpike. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arch_of_Titus_Menorah_22.jpg
Zweig fand sich zu Beginn des Ausbruches des Ersten Weltkrieges in einem Zwiespalt zwischen patriotischer Kriegsbejahung und kosmopolitischem Pazifismus. Die im Rahmen seiner Dienstpflicht im Kriegsarchiv unternommene Reise nach Galizien, während der er sich vor Ort Informationen über die Verhältnisse der Bevölkerung in diesem österreichischen Kronland verschaffen sollte, konfrontierte ihn mit dem Schicksal der vertriebenen Juden, das er als dramatischer ansah als jenes „seit den Tagen Nebukadnezars und der Zerstörung des Tempels“. Dies dürfte auch der Anstoss zum Drama Jeremias[31] gewesen sein, welches im Jahr 1917 erschien und an dem er zwei Jahre lang gearbeitet hatte; er selbst bezeichnete es einmal als unaufführbar. Die Kernaussage gipfelt in den letzten Versen, in welchen der Fluch der ewigen Wanderschaft zum Segen des Wanderns in alle Ewigkeit verwandelt wird. Einer der siegreichen Chaldäer ruft aus, während er die Scharen der ausziehenden Juden beobachtet:
„Siehe, wie sie in die Sonne schreiten! Es ist ein Glanz auf diesem Volke, ein Morgenrot auf ihren Häupten. Mächtig muss ihr G’tt sein.“ Sein Hauptmann antwortet ihm: „Ihr G’tt? Haben wir nicht seine Altäre zerbrochen? Haben wir nicht gesiegt über ihn?“ Darauf der Chaldäer: „Man kann das Unsichtbare nicht besiegen! Man kann Menschen töten, aber nicht den G’tt, der in ihnen lebt. Man kann ein Volk bezwingen, doch nie seinen Geist.“ [32]
Als weitere Prosawerke Zweigs, die das dramatische Schicksal im Exil und das ewige Wandern behandeln, sind die Novellen Rachel rechtet mit G’tt und Buchmendel[33] zu erwähnen. In letzterer Geschichte wird dem galizischen Talmud-Gelehrten und Büchersammler Mendel zur Zeit des Ersten Weltkrieges der Zutritt zu einem Wiener Café, dem typischen Treffpunkt jüdisch-europäischer Kultur, verwehrt. Zweig sieht darin offenbar schon eine Vorwegnahme des geistigen Schicksals Europas und seines eigenen als das eines vertriebenen Literaten.[34] 1936 verfasste Zweig im englischen Exil die titelgebende Novelle Der begrabene Leuchter. In einem Schreiben widmete er sie seinem Freund Schalom Asch (1880–1957) mit dem Hinweis, es handle sich um eine jüdische Legende, die nur etwa fünfzig Seiten Umfang haben werde, da seine „Stärke in den knappen Formen“ liege.[35] Tatsächlich ist der Umfang etwa doppelt so gross.[36] Bemerkenswert ist, dass der Autor den Text auch an den damals in London lebenden Albert Einstein sandte, „[…] da ich um Ihren Anteil für das jüdische Problem weiss“,zur „[…] Ablenkung von Ihrer strengen Arbeit in einer freien Stunde “[37]
Exkurs: Zur Bedeutung des Leuchters
Dem siebenarmigen Leuchter, der Menora, kommt eine weittragende Bedeutung bei. Die Menora symbolisiert den Baum des Lebens, das Licht der Welt, die sieben Tage der Schöpfung und verweist auf das unendliche Licht G’ttes. Nach dem Historiker Flavius Josephus symbolisieren die sieben Lichter auch die (damals bekannten) Planeten. In der Mystik werden die Arme des Leuchters mit Buchstaben und dem daraus gebildeten Namen G’ttes verglichen. Die Anleitung zur Herstellung des Leuchters stammt aus der Bibel selbst, nämlich aus dem Buch Exodus, Kapitel. 25, 31-40. [38] Der Menora kommt somit eine ganz besondere Bedeutung zu. Ein besonders gravierendes Ereignis war es, als nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die von Titus befehligte römische Armee im Jahre 70 der Zeitrechnung neben den Kult- und Wertgegenständigen eben auch diese goldene Menora im Triumphzug weggeführt und mit der Beute nach Rom überstellt wurde. Auf dem zu Ehren des Kaisers und zur Erinnerung an dessen Triumph errichteten Titusbogen zeigt eine der Reliefdarstellungen die Scharen der Plünderer, welche unter anderem den Leuchter tragen. Ab dann verliert sich dessen Spur. Der Geschichtsschreiber Prokopius berichtet im 6. Jahrhundert, dieser Leuchter sei in einem römischen Tempel aufbewahrt gewesen, von plündernden Vandalen im 5. Jahrhundert gestohlen und nach Karthago verschifft worden. Von dort hätte ihn dann der über die Vandalen siegreiche byzantinische General Belisar als Kriegsbeute mit nach Konstantinopel gebracht und seinem Kaiser Justinian überreicht. Von dort an, so berichtet die fantasiereiche Geschichte Zweigs weiter, es sei gelungen, den Kaiser zu überzeugen, dass diese Beute Unglück bringe, sodass er den Leuchter nach Jerusalem schicken liess. Steven Fine führt in seinem Werk zur Bedeutung des Leuchters aus:
„[…] no single artifact has fascinated Jews more than the Menorah […], the preeminent symbol of Judaism turned symbol of an old-new Jewish modernity, enlightenment, and ultimately the Jewish state continues to inspire the imagination and the desire for physical contact with biblical reality”.[39]
Inhalt
Zweig lässt seine Legende in Rom, in der Mitte des Jahres 455 der Zeitrechnung, im Circus Maximus beginnen. Wortgewaltig, reich an eindrucksvollen Bildern und doch altmodisch ist der Erzählstil. Tausende von Zusehern beobachten Tierhetzen und können dabei mit ansehen, wie ein Bote sich dem anwesenden Kaiser Maximus nähert, um ihm eine offenbar bedrohliche Botschaft zu übermitteln, da dieser daraufhin mitsamt seinem näheren Gefolge die Arena unverzüglich verlässt. Rasch verbreitet sich das Gerücht, dass sich die Vandalen in grossen Scharen der Hauptstadt näherten. Maximus versucht zu fliehen und wird vom Pöbel erschlagen. Der Papst Leo tritt dem Führer der Vandalen, Geiserich, entgegen und bittet ihn, von Plünderungen Abstand zu nehmen. Es gibt keinen Kampf, da niemand bereit ist, die Hauptstadt zu verteidigen. Es gibt aber auch keine Plünderungen in dem Sinn, dass die siegreichen Soldaten alles an sich raffen, vielmehr kommt es zu einem durch genaue Aufzeichnungen dokumentierten, systematischen Raub, bei dem alles Kostbare, das vorgefunden wird, weggetragen und anschliessend nach Karthago verschifft wird.
In der Judengasse rotten sich die männlichen Bewohner ängstlich zusammen, wissend, dass immer dann, wenn ein Unglück geschieht, daran ohnedies die Juden schuld sein werden und die Vergeltung dafür zu tragen haben. Plötzlich werden sie aufgeschreckt durch ein Klopfen an der Tür. Der Eingelassene stellt sich als jüdischer Schatzmeister des Kaisers, nämlich Hyrcanos ben Hillel dar, welcher berichtet, der Leuchter sei gefunden worden, er hätte versucht, ihn zu verstecken, was ihm aber nicht gelungen sei. Dieser befand sich also in der Kunstkammer des Kaisers, unter zahllosen sonstigen, seit den Zeiten von Titus angehäuften Schätzen. Da der Leuchter aus getriebenem Gold und somit sehr kostbar sei, habe man ihn aufbewahrt und nicht für Münzen, Schwerter oder ähnliches eingeschmolzen. Hier leuchtet ein gewisses Hadern mit G’tt auf: man fragt sich, warum er Moses befohlen habe, den Leuchter so wertvoll zu gestalten, da Reichtum doch immer das Böse anziehe, die Gefahr des Raubes mit sich bringe. Vorerst berät man sich, ob man den Leuchter zurückkaufen könne, denn kämpfen sei der jüdischen Gemeinschaft unmöglich. Da die Barbaren nichts über die Bedeutung des Gegenstandes an sich wüssten, sollte man ihn um ein Mehrfaches seines Wertes auslösen können. Hyrcanos hatte schon versucht, dies dem Vandalenkönig vorzuschlagen und ihn zum Verkauf zu bewegen. Nachdem dem Vandalenkönig die symbolische Bedeutung des Leuchters bewusst geworden war, erklärte er, dass er diesen nun erst recht nicht herausgeben werde: er habe schon so grosse Mengen an Schätzen geraubt, dass es ihm auf weiteres Gold nicht ankomme. Die Juden erfahren schliesslich, dass in dieser Nacht der Leuchter mit dem letzten Teil der Beute zum Hafen gebracht werden solle. Schliesslich macht der Älteste, Rabbi Elieser, den Vorschlag, nicht junge Männer, die wohl gleich als Sklaven weggeführt würden, sondern eine Gruppe von Alten sollte dem Wagen zum Hafen folgen, um doch noch den Versuch zu machen, den Leuchter zurückzuholen. Dabei solle ein Kind mitgenommen werden, welches noch jung war, daher noch wesentlich länger leben werde und später Zeugenschaft für deren Tun ablegen könnte. Einer der Alten, der Färber Abthalion, erklärt, er werde seinen erst sieben Jahre alten – die Zahl entspricht nicht zufällig jener der Arme des Leuchters! – holen und mitnehmen. Dieses Kind Benjamin wird später zur wichtigsten Figur der gesamten Erzählung.
Schliesslich brechen sie auf, elf Greise und ein Kind, und treten den langen Marsch zum Meer an. Natürlich stellt das Kind Fragen, wohin denn der Weg ginge und warum. Der Grossvater herrscht es an und gebietet ihm Schweigen. Nicht so Rabbi Elieser, der dem Kind erzählt, man gehe einen alten Weg, den schon die Vorväter gegangen seien, seien sie doch ein Wandervolk durch unendlich lange Zeiten, ein einziges und einsames unter den Völkern, das vielleicht ewig weiter wandern müsse durch alle Zeiten, aber verbunden durch ihren G’tt und den Glauben an ihn. Unsichtbares hält sie zusammen, und das sei eben ihr G’tt. Er erklärt ihm die Bedeutung der Heiligtümer, deren wichtigstes und sichtbarstes der Leuchter sei. Das Kind fragt weiter, einerseits warum man es zulasse, dass der so wertvolle Leuchter geraubt werde und schliesslich auch, weshalb G’tt diesen Raub dulde. Der weise Rabbi gesteht schliesslich ein, dass er ständig mit G’tt hadere, die Frage aber nicht beantworten könne. Endlich langen sie im Hafen an, wo nur noch ein einziges Schiff ankert, auf welches soeben die letzten Lasten verladen werden. Die Verfolger können beobachten wie der letzte Karren entladen wird und sehen mit Entsetzen, wie der heilige Leuchter vom Tisch des Herrn im Hause Salomons, weil er im Weg ist, unachtsam zur Seite gestossen wird und schliesslich in den Schmutz fällt. Hoffnung kommt auf, der Leuchter könnte vergessen werden, doch einer der Sklaven bemerkte ihn und lädt ihn sich auf seine Schultern. Da befällt das Kind, Benjamin, ein heftiger Zorn, es reisst sich los, rennt hinter dem Sklaven her und versetzt diesem einen Stoss. Dabei entgleitet diesem der Leuchter und zerschmettert dem Kind den rechten Arm. Der Sklave stösst das stöhnende Kind weg und trägt den Leuchter in das Schiff hinein, das sich in der Folge rasch aus dem Hafen entfernt. Der Rabbi erklärte, man solle das Kind nicht beweinen, sein Schmerz sei vielmehr Segen und Berufung. Ihm sei Grosses widerfahren, hätte er doch Heiliges berührt. Nur im Leiden erhebe sich ihr Volk, nur aus der Not werde ihm schaffende Kraft.
Nun folgt in der Geschichte ein gewaltiger Zeitsprung. Über siebzig Jahre sind vergangen seit dem Raubzug der Vandalen. In der Stadt am Tiber ist kein Friede mehr eingekehrt, ein Kaiser ist auf den anderen gefolgt, die elf Greise, welche damals dem Leuchter gefolgt waren, sind längst verstorben. Als einziger lebt noch Benjamin, den man als Kind als Zeugen des Geschehens mitgenommen hatte. Sieben seiner Söhne und auch seine Kindeskinder sind bereits vorverstorben. Allein er hat überdauert und ist hoch angesehen, hat er doch als Einziger den Leuchter aus Salomons Tempel gesehen. Eines Tages, am Jahrestag der Zerstörung des Tempels, sitzt Benjamin mit anderen am Friedhof, als ein Bote eintrifft, um zu berichten, Belisar, der Feldherr des Kaisers Justinian, der aus Byzanz nach Karthago gegen die Vandalen gezogen war, habe diese besiegt und deren König gefangen genommen. Alles, was die Räuber seinerzeit aus Rom verschleppt hätten, führe er nun nach Byzanz. Darunter sei auch der Leuchter. Da verspürt Benjamin, warum ihm G’tt ein so hohes Alter geschenkt hat: um ihn aufzusparen. Er fühlte den Drang, nach Byzanz zu gehen, um den Leuchter dort selbst auszulösen. Die Bedenken der anderen Männer, er sei zu alt für dieses beschwerliche Unternehmen, zerstreut er mit dem Hinweis, man sei immer stark genug, wenn es gelte, das Heilige zu tun. So wie er seinerzeit als Siebenjähriger die beschwerliche Reise zur Verfolgung des Leuchters geschafft habe, werde er es nun auch als Greis schaffen. Durch Loswurf wird ein einziger Begleiter ausgewählt, mit dem gemeinsam Benjamin die lange und mühevolle Reise antritt.
Der Leuchter kommt also wieder nicht nach Hause, nach Jerusalem, sondern wieder in eine fremde Gegend, nach Byzanz. Die Kunde von der Ankunft des Leuchters verbreitete sich rasch unter den Juden des Reiches, die sich von nah und fern nähern. Sie versammeln sich in der Hoffnung, dass die Wanderschaft des Leuchters und damit auch ihres Volkes enden möge. Man beginnt zu sammeln und wartete auf ein Wunder. Die grösste Schwierigkeit werde es sein, vor das Antlitz des Kaisers zu treten – etwas, das bislang noch nie einem Juden vergönnt gewesen sei. Einer der Anwesenden kennt allerdings den Schatzmeister, denn er arbeitet seit 30 Jahren für ihn. Dieser eine stellt sich ihm vor, und zwar als Sohn des Enkels jenes Hyrcanos ben Hillel, welcher seinerzeit in Rom den Leuchter gehütet hatte. Er hatte einerseits seine Goldschmiedekunst, andererseits das Geheimnis des Leuchters an seine Nachkommen tradiert. Benjamin sieht sich nun plötzlich zu schwach, um seine Aufgabe zu erfüllen, wird aber von Zacharias bestärkt. Das Unerwartete geschieht, er wird vor den Kaiser gelassen, aber nicht, ohne stundenlang zuwarten zu müssen. Als er endlich mit seinem Begleiter eintreten darf, verhält er sich vorerst dem strengen Zeremoniell gemäss, wonach man sich vor dem Kaiser – wie sonst nur vor G’tt – zu Boden werfen müsse und diesen nicht anblicken dürfe. Benjamin bringt seine von einem Dolmetscher übersetzte Bitte vor, ist aber schon der abweisenden Antwort gewahr. In Übertretung aller Regeln springt er auf, überschreitet die weisse Trennlinie, tritt nah an den Thron heran und beschwört den Kaiser, indem er diesem erklärt, dass der Leuchter Unglück bringe. Babylon, Rom und Karthago seien gross gewesen, aber gefallen. Der Kaiser ist erzürnt über die Dreistigkeit des alten Juden, er selbst, ein Bauernsohn ist jedoch sehr abergläubisch, fürchtet sich vor Zauber und Zeichen. Schliesslich befiehlt er, man nehme das Ding und schaffe es nach Jerusalem. Für einen Augenblick denkt Benjamin, er hätte sein Ziel erreicht. Als Justinian aber die Freude auf dem Gesicht des alten Mannes sieht, zeigt er ein böses Lächeln: nicht den Juden solle der Leuchter gehören und deren falschem Dienst dienen, er solle vielmehr in einer neu zu weihenden Kirche aufgestellt werden.
Wegen des neuerlichen Misserfolges hadert Benjamin wieder mit G’tt. Er verabschiedet sich von der Gemeinde, will nach zurück nach Rom. Er will nicht mehr, er kann nicht mehr leben. Er schläft ein und träumt einen Traum, in dem er Schritte hört, Schritte unzähliger Männer, Frauen und Kinder, eines ganzen bedrückten Volkes, das durch die Nacht wandert in ewiger Wanderschaft. Man müsse diesem Volk Licht bringen. Plötzlich sieht er es in der Ferne: sieben kleine Funken. Das müsse der siebenarmige Leuchter sein, dem er nun nachhetzt, um ihn zu fassen, der ihm aber immer weiter entschwebt. Er setzt zum Sprung an, um den Leuchter zu fassen, der neuerlich auf seinen ohnedies verkrüppelten Arm schlägt. Er sieht ihn für immer verloren. Aber plötzlich hält der Leuchter inne, bleibt still in der Schwebe, die gerade noch wild flackernden Flammen leuchten und strahlen golden. Es ist nicht mehr Nacht, kein wanderndes Volk mehr, vielmehr sieht er sich in ein südliches, fruchtbares Land kommen mit Feldern und weidenden Tieren und friedlich arbeitenden Menschen. Er fragt sich, ob das Volk noch dasselbe sei, das vormals im Dunkeln marschiert war, ob es nun endlich Frieden gefunden habe und zu Hause sei. Der Leuchter schwebt über einer Stadt mit mächtigen Zinnen und einem Tempel entgegen. Das muss Jerusalem sein!
Bei seinem Erwachen aus diesem Traum findet ihn Zacharias vor, der ihn in seine Werkstatt führt, die direkt an der Schatzkammer liegt. Seit dreissig Jahren arbeitet er als Goldschmied im Palast. Jedes Beutestück wird ihm überbracht, um es nach Wert und Gewicht zu schätzen. Dasselbe geschieht mit dem Leuchter, der sich jetzt in seinen Händen findet, wie er dem staunenden Benjamin eröffnet. Auch ist es ihm gestattet, von all den Kostbarkeiten aus der kaiserlichen Kunstkammer Abbilder herzustellen. Der Goldschmied macht daher den Vorschlag, in jenem Zeitraum von sieben Tagen, für welchen ihm der Leuchter anvertraut ist, ein Abbild desselben herzustellen, das sich nicht durch das kleinste Detail vom echten Leuchter unterscheiden soll. Benjamin hat starke Bedenken, den echten Leuchter gegen einen nachgeahmten zu tauschen und so den Schatzmeister beziehungsweise den Kaiser zu betrügen. Die beiden Männer kommen überein, den Schatzmeister selbst entscheiden zu lassen, welchen der Leuchter er behalten und welchen er dem Goldschmied überlassen will. Schliesslich kommt der Zeitpunkt der Prüfung. Der Schatzmeister lässt sich viel Zeit und will dem Goldschmied die Auswahl übertragen. Da tritt Benjamin aus dem Schatten hervor und ersucht ihn, selbst zu wählen. Der Schatzmeister, ein gutmütiger Mann, ist überrascht, will dem Alten diese Bitte aber nicht abschlagen und nimmt eine Münze, wirft sie auf, sie bleibt auf der Seite des neuen Leuchters liegen, den der Schatzmeister auch mitnimmt.
Endlich befindet sich der Leuchter also in den Händen Benjamins, der nun Zacharias bittet, ihm einen Sarg zu besorgen. Sie betten die Menora in den unauffälligen Holzsarg und Benjamin macht sich per Schiff auf die Reise. Angekommen in Joppe (heute Jaffa) erbittet er vom Wirt, bei dem er übernachtet, einen Begleiter und einen Maulesel. Der Maulesel trägt den Sarg, der ausgewählte, stumme Diener eine Schaufel. Als das Maultier plötzlich stehenbleibt, bockt und sich weigert, weiterzugehen, denkt Benjamin, dies sei der rechte Ort, den Sarg mitsamt dem Leuchter zu vergraben. Aus dem Dunkel des Himmels kommt, wie aus einem riesigen, weissen Auge, ein Strahl – für Benjamin das Zeichen, dass er den richtigen Ort gefunden hat. Er weist den Knecht an, ein Grab auszuheben, senkt den Sarg hinein und lässt es wieder verschliessen. Darauf schickt er Mann und Tier nach Hause und spricht selbst das Totengebet. Er unterlässt sogar den frommen Brauch, einen Stein auf das Grab zu legen, um nicht auf dessen Vorhandensein hinzuweisen. Nun hat er seine letzte Aufgabe erfüllt. Ohne sich nochmals umzusehen, geht er ziellos von dannen. Es läge ja nunmehr an G’tt alleine, ob der Leuchter bis ans Ende aller Tage im Verborgenen bleiben solle und das Volk weiter zerstreut bliebe über die gesamte Erde, oder ob er das Volk endlich heimführen wolle und den Leuchter aus seinem Grab auferstehen lasse, da er ja nun der einzig Lebende ist, der noch um das Geheimnis des Leuchters Bescheid weiss. Am nächsten Morgen finden Kaufleute einen toten alten Mann in einem Feld abseits des Wegs, dessen Gesicht einen friedlich verklärten Ausdruck hat und in dessen geöffneten Augen sich der ganze Himmel spiegelt.
Der unechte Leuchter wird, dem Geheiss des Kaisers entsprechend, nach Jerusalem gebracht und unterhalb eines Altares in der neuen Kirche aufgestellt. Dort bleibt er nicht lange. Die Perser brechen ein, zerschlagen ihn und fertigen aus den Stücken Spangen und eine Kette für ihren König. Geborgen durch das Geheimnis, wartend und wacht noch immer der ewige Leuchter unerkannt und unversehrt in seinem heimatlichen Grab. Über ihn rauschen unbändige Zeiten hinweg. Aber keine Gier kann ihn mehr an sich raffen oder gar zerstören. „Wie immer G’ttes Geheimnis, ruht er im Dunkel der Gezeiten und niemand weiss: wird er ewig so ruhen, verborgen und seinem Volke verloren, das noch immer friedlos umherwandert von Fremde zu Fremde, oder wird endlich einer ihn finden, an dem Tag, da sein Volk sich wiederfindet und er abermals dem befriedeten Leuchten im Tempel des Friedens“.
So die Schlussworte von Zweigs Erzählung, deren Ende somit offenbleibt. [40]
Interpretation
Ein unbefriedigendes, weil offenes Ende? Ein bedeutender Mittelalterforscher – Ferdinand Gregorovius – geht jedenfalls davon aus, dass der Leuchter nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer von diesen nach Rom gebracht worden ist. Der von den Christen als Abtrünniger angesehene Kaiser Julian Apostata, der die alten Götter wieder einführen wollte, dachte auch an die Wiedererrichtung des Tempels in Jerusalem, zu welcher es allerdings nicht kam. Der Historiker Prokop berichtet jedenfalls davon, dass die Goten die Tempelgeräte gestohlen hätten und unter anderen Beutestücken auch der Leuchter nach Karthago verschleppt worden sei. Dort hätte wiederum Belisar ihn mit der gesamten Kriegsbeute an sich genommen und zu Justinian nach Byzanz gebracht. Weil dieser Angst davor hatte, dass der Leuchter Unglück bringen werde, hätte er ihn nach Jerusalem bringen lassen. Diese ebenso unvollendete Geschichte diente Zweig also als Vorbild. Ob die Geschichte des Prokopius den Tatsachen entspricht, ist unklar. Archäologen haben im Zuge von Ausgrabungen diverse steinerne Leuchter gefunden; vielleicht taucht ja auch einst der echte aus dem Tempel Salomons wieder auf. Die Stoffwahl war für Zweig nicht zufällig. Wurde er dazu durch die erfolgte Hausdurchsuchung und das nachfolgende Verbot seiner Werke, und den damit verbundenen Beginn seiner eigenen Wanderung veranlasst? Er wurde dadurch heimatlos. Zweigs ursprünglich ablehnende Haltung gegenüber dem Zionismus wurde mit der Zeit verhalten positiv. Sein Werk Der begrabene Leuchter ist somit als Botschaft zu sehen. Der Leuchter war stets und ist nach wie vor ein Sinnbild der jüdischen Identität, wohl deutlich zum Ausdruck gebracht dadurch, dass er das Wappen des Staates Israel ziert. Vor der Knesseth steht seit 1949 eine riesige steinerne Menora mit Reliefs aus der Geschichte des jüdischen Volkes, die auf Ankommende ähnlich wie die Freiheitsstatue in New York wirken soll.
Am Beginn der Novelle wird der siebenjährige Knabe Benjamin über die ewige Wanderschaft seines Volkes, die möglicherweise nicht enden wird, belehrt. Hierin ist durchaus ein Vergleich mit der erst beginnenden, aber bereits vorhergesehenen Wanderschaft Zweigs zu sehen, deren Richtung und Ende zu diesem Zeitpunkt ebenso ungewiss sind. Des Weiteren wird Benjamin dahin gehend belehrt, dass der Leuchter Zeugnis für den unsichtbaren G’tt sei, der mit dem wandernden Volk mitgehe. Trotz seiner nach wie vor bestehenden Vorbehalte gegen den Zionismus schildert Zweig die ursprüngliche Landnahme des Volkes, kommt dann aber gleich wieder zur Vertreibung. Seine pazifistische Grundeinstellung klingt auch dort an, wo er den Knaben durch den weisen Alten belehren lässt, das Recht stehe nicht auf der Seite der Schwachen, diese versuchten das Recht nicht mit der Waffe in der Hand zu erringen, wobei hier auch mitschwingt, dass auch G’tt selbst die Hände gebunden seien. Zweig selbst bemerkt in einem Brief, dass das Faszinierende an dem Stoff für ihn sei,
„[…] diese wirklich grossartige Wanderung eines Objekts durch tausend Jahre und dann erst, dass es ein Symbol ist jener Verzweiflung und Richtungslosigkeit eines ganzen Volkes“. [41]
Den literarischen Texten Zweigs zum Thema Religion liegen vier Hauptgedanken zu Grunde: G’tt und sein Volk – das Leiden – der wandernde Jude und die Heimat – der verborgene G’tt.[42] Hatte Zweig noch 1913 in einem Brief erklärt: „[…] ich will mich nicht festlegen auf meine Meinung auf das Judentum“, erklärte er schon 1917: „Meine Stellung zur Judenfrage, die vielleicht eine unklare war […] ist durch die Zeit nun ganz merkwürdig präzise geworden.“
Die Klärung seines jüdischen Selbstverständnisses ging jedenfalls mit der literarischen Aneignung biblischer Überlieferungen Hand in Hand.[43] In seiner zunehmenden Mutlosigkeit konnte Zweig den verfolgten Menschen nur wenig geben. In der Welt von gestern schreibt er im abschliessenden Kapitel, das bezeichnenderweise „Die Agonie des Friedens“ übertitelt ist:
„Aber das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, dass die sie erlitten, keinen Sinn mehr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewusst, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz […]. Solange die Religion sie zusammenschloss, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft […].Die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts waren längst keine Gemeinschaft mehr. Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Jude sein eher als Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewusst.“.[44]
Die jüdische Legende gibt somit Einblick in die innere Verfasstheit des Autors. Dass ihr eine bleibende oder auch neue Aktualität innewohnt, ist ein Beweis für die aussergewöhnliche Weitsicht und die literarische Meisterschaft von Stefan Zweig.[45] Der Ausgang der Titelgeschichte bleibt letztendlich offen. Ob die endlose Wanderung damit beendet ist, bleibt unklar. Viel klarer ist das traurige Ende von Zweigs eigener Geschichte im Februar 1942 in Petropolis, wobei er in seinem Abschiedsschreiben nochmals einen bedeutsamen Vergleich anstellt:
„[…] aber nach dem 60. Jahre bedürfe es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft […].“ [46]
Nachlese
Dines 2006
Dines Alberto, Tod im Paradies, die Tragödie des Stefan Zweig, (1981), dt. Frankfurt, Wien, Zürich 2006.
Fine 2016
Fine, Steven, The Menorah, From the Bible to Modern Israel, Cambridge MA and London, 2016.
Gelber 2014
Gelber Mark H., Stefan Zweig, Judentum und Zionismus, Innsbruck, Wien, Bozen, 2014.
Langer 2008
Langer Gerhard, “Stefan Zweig und die jüdische Religion“ in Joachim Brügge (Hg.): Das Buch als Eingang zur Welt, Schriftenreihe des Stefan Zweig Salzburg Centre Band 1, 2008.
Litt 2020
Litt Stefan: Stefan Zweig, Brief zum Judentum Berlin 2020.
Matouschek 2006
Matouschek Oliver, Stefan Zweig, 3 Leben – eine Biografie, 2006.
Müller 2017
Müller, Karl „Überreligiöse Gläubigkeit“ und übernationales Selbstverständnis in Mark H. Gelber (HG), Stefan Zweig, jüdische Relationen: Studien zu Werk und Biografie, Salzburg und Würzburg 2015.
Paumgardhen 2019
Paumgardhen Paula, Schriftraum Diaspora: Die moderne Ästhetik der ewigen Wanderschaft bei Stefan Zweig in Cahires universitaire d’informacion sur l’autriche, Wien-Prag 2019. https://journals.openedition.org/austriaca/873?lang=de
Zohn 1967
Zohn Harry „Jewish themes in Stefan Zweig” in Journal of the international Arthur Schnitzler research association, 6,2 1967.
Zunz 1997
Zunz Leopold, Die 24 Bücher der Heiligen Schrift, Tel Aviv 1997.
Zweig 2016
Zweig Stefan, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 2016.
Zweig 2018
Zweig Stefan, Jeremias, eine dramatische Dichtung in neun Bildern Erstausgabe Leipzig 1917, Neuausgabe Martigny, 2018.
Zweig 2022
Zweig Stefan, Der begrabene Leuchter in jüdische Erzählungen und Legenden, Hg. Stefan Litt, Berlin 2022.
Zweig Leben und Werke
Stefan Zweig Zentrum https://stefan-zweig.at/stefan-zweig/leben-werke, abgefragt 25.12.2024.
[1] Litt 2020, Seite 19.
[2] Dines 2006, Seite 158.
[3] Müller 2015, Seite 81.
[4] Müller 2015, Seite 83.
[5] Zweig, Die Welt von gestern 2016, Seite 40.
[6] Dines, 2006, Seite 184.
[7] Litt, 2020, Seite 11.
[8] Stefan Zweig, Zentrum, Leben und Werke Seiten 1, 2.
[9] Litt, 2020 Seite 12, 13
[10] Litt 2020, Seite 16.
[11] Voller Text in Diner 2004, S 619.
[12] Stefan Zweig, Zentrum, Leben und Werke, Seiten 4,5.
[13] Litt 2020, Seite 16, 17.
[14] Gelber 2014, Seiten 11, 12.
[15] Paumgardhen 2019, Seite 2.
[16] Zohn 1967, Seite 36.
[17] Langer 2008, Seite 39.
[18] Paumgardhen 2019, Seite 2.
[19] Paumgardhen 2019, Seite 3.
[20] Gelber 2014, Seite 97.
[21] Zitiert nach Gelber 2014, Seite 30.
[22] Zitiert nach Gelber 2014, Seite 31.
[23] Müller 2015, Seite 86.
[24] Langer 2008, Seite 52
[25] Paumgardhner 2019, Seite 8
[26] Litt 2020, Seite 27.
[27] Paumgardhner 2019, Seite 3
[28] Wiederveröffentlicht in Zweig 2022 Seiten 9-23
[29] Gelber 2014, Seite 95
[30] Paumgardhner 2019, Seite 5
[31] Zweig 2018
[32] Zweig 2018, Seite 230.
[33] Beide wiederveröffentlicht in Zweig 2022, Seiten 137 bzw 154
[34] Paumgardhner 2019, Seite 11
[35] Brief an Schalom Asch vom Frühjahr 1935, in Litt 2020, Seite 214.
[36] Wiederveröffentlicht in Zweig 2022, Seiten 187-299.
[37] Brief an Albert Einstein ?1936, in Litt 2020. Seite 235
[38] Zunz 1997, Der Exodus, Kapitel 25, Seite 151
[39] Fine 2016, Seite 184.
[40] Zweig 2022, Der begrabene Leuchter, Seite 299
[41] Müller 2017, Seite 91
[42] Langer 2009, Seiten 43 bis 66
[43] Müller 2017, Seiten 96, 97
[44] Zweig 2016, Seite 215.
[45] Litt in Nachwort des Hg. zu Zweig 2022, Seite 318.
[46] Dines 2006, Seite 619