Im Jahr 1909 organisierte der Istanbuler Jüdische Sportverein Makkabi (vormals Israelitischer Turnverein Konstantinopel) eine Turnvorführung in der Teutonia, einem beliebten deutschen Gesellschaftsklub im Stadtteil
Galata.
Die Mitglieder des Istanbuler Jüdischen Sportvereins Makkabi führten vor einem religiös gemischten Publikum aus Christen, Juden und Muslimen sportliche Kunststücke vor, bei denen sie mit ihrem Körper kunstvolle Übungen zeigten. Der Präsident der Makkabi, Moritz Abramowitz, hielt vor der Veranstaltung eine leidenschaftliche Rede, in der er die Bedeutung körperlicher Betätigung hervorhob. Sport und Gymnastik, so argumentierte er, seien die wirksamsten Mittel, mit denen die osmanischen Juden starke, gesunde Körper kultivieren und eine moderne osmanische jüdische Gemeinschaft aufbauen könnten.1 Diese Nachricht könnte insofern stimmen, als laut einer Aussage in der 2023 erschienenen gemeinsamen Publikation des (heute in der ehemaligen Teutonia untergebrachten) Istanbuler Orient-Instituts2 jüdische Sportler, die aufgrund ihrer Religion 1895 vom dortigen Deutschen Turnverein verwiesen worden waren und daher die spätere Makkabi gründeten, wiederholt in den Räumlichkeiten der Teutonia trainierten. Andere Quellen3 vermerken jedoch, dass der neu gegründete jüdische Sportklub sich hierzu einer Turnhalle der sich ebenfalls in Galata befindlichen aschkenasischen Goldschmidt-Schule bediente.
Der Israelitische Turnverband 1895. Foto: Privatarchiv Daniel Abraham, U.S.A. Mit freundlicher Genehmigung R. Schild.
Makkabi Fussballmannschaft 1914–1922. Foto: Privatarchiv Daniel Abraham, U.S.A. Mit freundlicher Genehmigung R. Schild.
Vom Israelitischen Turnverein zur Makkabi
Wie dem auch sei – Abraham Ziffer (ein Sohn des aus Lemberg zugewanderten Moritz Ziffer) hatte nach seiner oben geschilderten „Ausweisung“ gemeinsam mit einigen Leidensgenossen den Israelitischen Turnverein gegründet.4 Dieser bezog sich inhaltlich – allen Anfeindungen zum Trotz – gerade auf jenes deutsche Gymnastiksystem, welches vom historischen „Turnvater“ Friedrich Jahn (1778–1852) Anfang des 19. Jahrhunderts als Mittel zur Stärkung und Wiederbelebung des deutschen Nationalgeistes entwickelt worden war. Die jüdische Turnbewegung ist um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa entstanden. Sie wurde zunächst durch die zionistisch-politische Aktivität und das aufkommende Selbstbewusstsein der jüdischen Bevölkerung im deutschsprachigen Raum unter anderem im Berliner Sportklub BarKochba gefördert. Mit einem Verein in Istanbul, dem ersten rein jüdischen „Turnverein“ überhaupt, hatte die Bewegung jedoch auch in den östlichen Regionen Europas und im Nahen Osten ihre Anhänger gefunden: 23 Jahre nach seiner Gründung änderte der Israelitische Turnverein seinen Namen in den national-jüdischen Turnverein Makkabi. Der Vorschlag zu dieser wegweisenden Umbenennung erfolgte während der Generalversammlung des Turnvereins am 25. Mai 1908 von Seiten seines Vizepräsidenten Haim Abraham, der ausführte, er könne diese Funktion nur in einem Verein mit national-jüdischer Überzeugung ausfüllen. Nicht zu unterschätzen sind hier die Verdienste Max Nordaus (1849–1923), eines hervorragenden Mitkämpfers von Theodor Herzl (1860–1904), der die Entwicklung eines so genannten „muskulösen Judentums“ gefordert hatte. Nordau leistete einen wichtigen Beitrag zur kompletten Umwandlung des verängstigten Juden aus dem Ghetto in die Idee des „neuen“ Juden – und somit wurde auf dem Zweiten Zionistenkongress 1898 in Basel der Grundstein für die Union der jüdischen Turnvereine, die Basis der späteren internationalen Maccabi-Organisation, gelegt.
Emblem des Israelitischen Turnvereins Makkabi, 1908. Foto: HUN-REN, Budapest & Orient Institut, Istanbul. Mit freundlicher Genehmigung R. Schild.
Doch zurück nach Konstantinopel: Ende des 19. Jahrhunderts wurde selbst die germanische Körperkultur von den deutschfreundlichen türkischen Behörden als unerwünschte und unnötige Aktivität betrachtet, da man mutmasste, diese könnte für militärische Aktionen, möglicherweise auch gegen das Regime, missbraucht werden. Vor allem deshalb musste der Israelitische Turnverein in Istanbul seine Existenz unter einer internationalen, fast philanthropischen Gruppierung verbergen: Die Turner konnten ihr Können nicht in der Öffentlichkeit präsentieren – sie mussten ihre Aktivitäten unter dem Schutz der deutsch-jüdischen Goldschmidt-Stiftung verbergen.
Gleich während des ersten Vereinsjahres 1908/09 erlebte das Osmanische Reich jedoch eine dramatische Veränderung, die für die neu ins Leben gerufene Makkabi glückliche Umstände mit sich brachte: Die sogenannte Jungtürkische Revolution vom 3. Juli 1908 führte als Erstes zur Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie seitens Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) und zu einer neuen Verfassungsperiode. Dies wiederum mündete in eine Reihe von Wahlen, bei denen auch fünf jüdische Vertreter in das neue Parlament einzogen. Gleichzeitig erwirkte diese Revolution eine grössere versammlungspolitische Freiheit, wonach der Israelitische Turnverein mit seinen Aktivitäten nunmehr in der Öffentlichkeit auftreten konnte.
Klubhaus „Teutonia“ mit der Osmanischen, Deutschen, Österreichischen und Schweizer Flagge, Ende des 19. Jahrhunderts. Foto: HUN-REN, Budapest & Orient Institut, Istanbul. Mit freundlicher Genehmigung R. Schild.
All diese positiven Veränderungen und Fortschritte führten somit zu häufigeren und konsequenteren gymnastischen und auch sozialen Aktivitäten. Bei den Sportveranstaltungen der Makkabi konnten ab da neben den üblichen Leibesübungen auch Gedichte, Gesänge und Theaterstücke vorgeführt werden. Beispielsweise konnte nun jährlich zur Chanukka-Zeit mit einem Turnfest das Gedenken an die Makkabäer gefeiert werden. Am 31. Dezember 1910 beispielsweise wurde das umfangreiche Programm mit der osmanischen Hymne eröffnet, gefolgt von der zionistischen Hymne, der Hatikwah. Diesem Anlass wohnten mehrere türkische Beamte und Behörden bei; einige von ihnen hielten sogar Reden in einer der drei offiziellen Sprachen der Makkabi, Türkisch, Hebräisch und Französisch. Erfreulich war hier die Bemerkung des Gouverneurs von Pera, Muhiddin Bey, dessen Anwesenheit als Zeichen für gute Beziehungen zum Staat galt, der meinte, dass „(....) die Ziele und Aktivitäten dieses Turnvereins das volle Vertrauen der Regierung geniessen.“
Ab Mai 1910 wurden die Turneinheiten in hebräischer Sprache abgehalten und der Verein begann, für die Mitglieder obligatorische Hebräisch-Stunden einzuführen. Ziel war die Förderung des national-jüdischen Gedankens und die Vermeidung von sprachlichen, vor allem auch turnerisch-technischen Missverständnissen. Die türkische Makkabi war der erste national-jüdische Verein, der Hebräisch anwandte. Eine Gruppe dieser Sprache mächtiger Mitglieder aus Konstantinopel beteiligten sich an der Ausarbeitung der hebräischen Gymnastik-Terminologie, die dann zur Begutachtung nach Jaffa (Palästina) geschickt wurde.
Vor dem Ersten Weltkrieg war der Sportverein Makkabi in Konstantinopel somit zu einer der führenden Einheiten in der türkischen Vereinsszene überhaupt geworden, mit seinen 1.000 Mitgliedern und den vielen verschiedenen Aktivitäten, die er durchführte – wie Turnvorführungen, Vorträgen über jüdische Themen, öffentlichen Umzügen und Ausflügen. Infolge der Nationalitätsbestrebungen nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 wurde er jedoch stillgelegt.
In memoriam Teutonia-Verein5
Auch die Teutonia als langlebiger deutscher Verein in Istanbul gibt es heute in dieser Form nicht mehr. 1847 von dort sesshaft gewordenen, deutschsprachigen Glashändlern gegründet6, überlebte er genau fünfzig Jahre lang in mehreren, immer wieder von Bränden zerstörten Lokalen aus Holz, bis hin zum heute noch bestehenden, 1897 errichteten steinernen Gebäude. Aber schon kurz nach der Gründung dienten diese vorübergehenden Lokale der Veranstaltung von Theaterabenden, Bällen und Weihnachtsfesten, mit einer Mitgliederzahl von über 300 Personen unter Teilnahme auch von Österreichern und Schweizern. Kegelbahn und Billardtisch, sowie eine einigermassen reich bestückte Bibliothek waren vorhanden, nebst dem oben geschilderten, modern ausgestatteten Turnsaal. Laut dem bereits erwähnten, geschichtlichen Sammelband des Orient-Instituts Istanbul von 20237 kam es – trotz des antisemitisch motivierten Ausschlusses der jüdischen Turner – am 4. Februar 1904 zu einer Soirée der Wohltätigkeitsgesellschaft Israelitischer Damen von Pera und Galata mit Aufführung von drei kleinen Einaktern, sowie beispielsweise am Sonntag, dem 25. Februar 1912 zu einer Matinee des Jüdischen Bildungsvereins Hatikvah, und zwar „zugunsten deren Bibliothek und Lesehalle.“
Während des Ersten Weltkriegs und noch mehrere Jahre danach blieb die Teutonia geschlossen, bis für sie ab 1924 als „Mittelpunkt des Deutschtums in Istanbul“ (so Botschafter Rudolf Nadolny) wieder „gute Zeiten“ kamen.8 Ab 1933 erreichte dieser „Prunkbau“ (Dietrich) allerdings seinen letzten Höhepunkt, als „bevorzugter, nationalsozialistischer Aktionsraum. Parallel zu den Zusammenschlüssen fanden Ausgrenzungen statt. Jüdische Vorstands- und Vereinsmitglieder wurden hinausgedrängt, schweizerische marginalisiert.“9 Im Vereinsarchiv ist ein Brief zu finden, der unter anderem die folgende Behauptung enthält: „Der Verein wurde 1933 gleichgeschaltet und als Forum für die parteipolitischen Versammlungen benutzt. […] Nicht der Verein als solcher wurde zu einer NS-Institution, sondern die Räumlichkeiten desselben mussten auf Anforderung der damaligen deutschen Behörden zu diesen Zwecken zur Verfügung gestellt werden […].“10 Wer aber aus der damaligen deutschen Community in Istanbul, beziehungsweise den sogenannten Bosporusgermanen, dort den Kindern in freiwilliger Form NS-Lieder beibrachte, Adolf Hitler verherrlichte oder nazistische Reden hielt, dürfte im Archiv namentlich wohl eher nicht verzeichnet sein.
1951 wurde die Vereinstätigkeit der Teutonia mit einem neu gebildeten, vermutlich entnazifizierten Vorstand wieder aufgenommen und zählte bereits 1957 an die 230 Mitglieder. Filmvorführungen, Konzerte, eigene Theaterveranstaltungen beziehungsweise jene des benachbarten Vereins Alman Lisesi, Ausflüge sowie Faschingsbälle und so weiter fanden bis in die späten achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts statt, bis dann alle Stockwerke des Vereins, nach einer vorübergehenden kurzen Periode der Nutzung durch das örtliche Goethe-Institut, ganz stillgelegt wurden. In der eingangs erwähnten Sammelpublikation des Istanbuler Orient-Instituts, welches dieses Gebäude für 99 Jahre angemietet, saniert und um zwei weitere Stockwerke erweitert hat, wird bei der 1847 beginnenden Chronologie des Vereins der Zeitraum von 1897 bis 2023 geflissentlich übersprungen. Auch die Dame, die den sogenannten Museumsraum der Teutonia betreut, hüllte sich bei meiner Frage, ob sich „die damals an der Fassade hängenden Hakenkreuzfahnen“ noch im Inventar befänden, in Schweigen.
Veranstaltung des Bildungsvereins Hatikwah – Annonce im Osmanischen Lloyd, 23.02.1912. Privatarchiv Erald Pauw, Istanbul. Mit freundlicher Genehmigung R. Schild.
Anmerkungen
1 Frei übersetzt nach M.C.Yıldız: Muscular Judaism Alla Turca?; In: AJS Perspectives: The Magazine of the Association for Jewish Studies, Herbst 2019, S. 22-23.
2 E. Kutlay/ G. Fodor/ R.Wittmann (Hrsg.): In the Footsteps of Franz Liszt. The Ottoman Court Musician Géza Hegyei & the Stage of Istanbul’s Club Teutonia. Exhibition Catalogue, Clubhouse Teutonia, Istanbul, June 2023. HUN-REN Research Centre for the Humanities & Orient-Institute Istanbul, Budapest 2024, S. 31.
3 D. Levent: İstanbul’un Makkabi’si. Artikel in der türkischen Wochenzeitung „Şalom“, 9. Januar 2008.
4 Vgl. hierzu auch R. Schild: Zwischen Österreichischem Tempel und Schneiderschul; In: Österreich in Istanbul II, (Hrsg. E. Samsinger), Wien 2017, S.117.
5 Siehe vor allem hierzu Barbara Radt: Geschichte der Teutonia. Vereinsleben in Istanbul 1847-2000. Hrsg. vom Orient-Institut Istanbul, Würzburg 2001.
6 Vgl. hierzu Anne Dietrich: Deutschsein in Istanbul. Nationalisierung und Orientierung in der deutschsprachigen Community von 1843 bis 1956. Opladen 1998, S. 98 ff.
7 In the Footsteps of Franz Liszt (a.a.O.), S. 33.
8 Vgl. A. Dietrich., S. 149.
9 Vgl. ebd., S. 213.
10 Vgl. ebd., S. 402.