Ausgabe

George Segal, s.A. zum 100. Geburtstag

Michael Bittner

„Invasion of the Plaster People“ 

betitelte Robert Hughes seine Rezension der grossen Ausstellung von Werken des amerikanischen Pop Art-Künstlers George Segal im New Yorker Whitney Museum of American Art (1979), und er meinte es nicht freundlich. Allzu ernst, zu wenig ironisch erschienen ihm die „New Yorker Pompeianer“.1

Inhalt

Die „Gipsmenschen“ sind, trotz all den anderen Dingen, die George Segal (26.11.1924 – 9.6.2000) gemacht hat, sein Markenzeichen geblieben und haben ihm eine Nische in der Kunstgeschichte der Moderne gesichert, in der Schublade Pop Art. Sie gehören weltweit zur Grundausstattung von Museen der Kunst des 20. Jahrhunderts.

 

Geboren in New York, in eine Einwandererfamilie aus Polen, die eine Hühnerfarm betrieb, studierte er ein wenig und kam schon 1959 auf die „glückliche Idee“, einen Man on a Bicycle zu schaffen, die Figur noch konventionell mit Gerüst aufgebaut und mit Gips überzogen, aber das Fahrrad war schon ein echtes Fahrrad.2 (Ob er wohl Marcel Duchamp kannte?) Damit wurde Segal zu einem der Gründerväter der Pop Art, die die weltweite Kunstszene massgeblich bestimmte und teilweise noch immer für den Ausstellungsbetrieb prägend ist.

 

Jeder grosse Pop-Künstler wie Andy Warhol (1928–1987), Roy Lichtenstein (1923–1997), Jasper Johns (geb. 1930) oder Tom Wesselmann (1931–2004) spezialisierte sich auf einen Themenkreis und eine spezifische „kunstlose“ Form der Produktion, wie Siebdruck, Schablonenmalerei oder Collage. Segal erzeugte seine Figuren einfach aus Abformungen von menschlichen Modellen mit Gipsbandagen, einer Technik, wie sie auf Pfadfinderlagern, in Therapiegruppen und vergleichbarem sozialem Umfeld eingesetzt wird. Die Teile setzte Segal zusammen, er goss sie nicht aus, er behandelte die Oberfläche nicht (daher sehen sie heute meist schmutzig aus), es war eben Pop Art, handwerklich schlecht gemacht, wie Warhols frühe Siebdrucke. Dazu kamen Objekte vom Sperrmüll, Möbel, Leitern, Verkehrsschilder, Rahmen und ähnliches, die das Ambiente für die Figuren bildeten.3

 

Als Motive wählte Segal wie seine Pop-Kollegen alltägliche Situationen und gewöhnliche Menschen, Leute aus dem amerikanischen Alptraum, wie Fensterputzer, Pendler, Menschen im Restaurant (Woman in a Restaurant Booth, MUMOK Wien)4, auf Parkbänken und an anderen unspektakulären Orten. Sie beziehen ihre Wirkung aus ihrer Lebensgrösse und dem Wissen, dass dies abstrahierte Abbilder von wirklichen Menschen sind, die uns als weisse, mumienartige Wesen entgegentreten.

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George Segal in seinem Atelier, 1979. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: 

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Eine künstlerische Entwicklung gab es bei Segal nicht wirklich. Eines Tages, in den Siebzigern, begann er seine weissen Figuren mit bunten Farben monochrom anzumalen, Pop Art-artig eben, aber es war kein grosser Erfolg, so liess er die Figuren doch wieder weiss. Das Holocaust-Memorial in San Francisco ist ein solches spätes Werk (1984).5

George Segal wurde weltberühmt, er war zwei Mal auf der documenta in Kassel vertreten, Nr. 4 (1968) und Nr. 6 (1977), der „Weltausstellung“ für zeitgenössische Kunst. Zu seinem Leidwesen gab es aber bald Bildhauer, die ihm künstlerisch schnell den Rang abliefen, mit hyperrealistischen Figuren aus Fiberglas, die eine viel stärkere Wirkung auf die Betrachter hatten – Duane Hanson (1925–1996), John de Andrea (geb. 1941) und später Ron Mueck (geb. 1958) dominierten bald die Szene zeitgenössischer figurativer Skulptur.

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Franklin D. Roosevelt – Memorial, Washington, D.C. Quelle:
Wikimedia commons, gemeinfrei: https://upload.wikimedia.org/
wikipedia/commons/thumb/4/4f/FDR-Memorial-One-Third-of-a-
Nation-color.jpg/800px-FDR-Memorial-One-Third-of-a-Nation-color.jpg

Segal starb im Jahr 2000 in New Brunswick, New Jersey. Er war ein zurückhaltender Mensch, anders als Warhol stellte er nicht seine Person, sondern sein Werk in den Vordergrund; Skandale und Publicity lagen ihm nicht. Ein stiller Einzelkämpfer, dessen Werk Bestand haben wird.6

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Ausstellung in Amsterdam 1964. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: By F.N. Broers / Anefo - Nationaal Archief, CC BY-SA 3.0 nl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29745169

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Holocaust Memorial San Francisco, Detail. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: Von Vards Uzvards from San Francisco, CA - The Holocaust (p7160658), CC BY 2.0, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=5002908

Anmerkungen

1 https://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,920582,00.html, abgerufen am 16.01.2024.

2 https://www.nga.gov/collection/artist-info.2269.html#biography, abgerufen 16.01.2024.

3 Vgl. https://www.sfmoma.org/artist/George_Segal/, abgerufen am 16.01.2024.

4 https://www.derstandard.at/story/2000069725127/kunst-als-weckruf-fuer-gesellschaft-und-politik), abgerufen am 16.01.2024.

5 https://artandarchitecture-sf.com/sf-holocaust-memorial.html

6 https://segalfoundation.org/, abgerufen am 16.01.2023.