Der für Nichtungarischkundige unaussprechliche Ort an der österreichisch-ungarischen Grenze ist hierzulande bekannt als Welthauptstadt des Dentalbusiness – 150 Zahnkliniken und Zahnärzte sind in der Kleinstadt mit 32.000 Einwohnern tätig.[i] Seit einiger Zeit gibt es auch wieder eine jüdische Gemeinde, die wenige Mitglieder hat, aber sehr rührig ist.
In der Doppelstadt Wieselburg-Ungarisch Altenburg hat es nie viele Juden gegeben, 1705 gerade einmal vier, 1910 580, 1930 die Höchstzahl von 910 (3,6 Prozent), 1941 noch 541, 1946, nach dem Holocaust 110 (0,6 Prozent)[2], heute bekennen sich rund zwanzig Menschen zum Judentum. Die jüdische Gemeinde lebte vor 1944 hauptsächlich in der Ostermaier-Strasse und gehörte den gehobenen Schichten an: es gab einen Fabrikanten, viele Händler, einige Handwerker, Juristen und Ärzte. Die Aufzeichnungen der Kultusgemeinde beginnen 1851, elf Jahre später wurde das Grundstück für die (heute zerstörte) Synagoge gekauft. Bei der Spaltung des ungarischen Judentums 1871 erklärte sich die Gemeinde als neutral („status quo“), heute gehört sie der neologen Gemeinschaft MAZSIHISZ an.
Die Deportationen von 1944 rotteten die Gemeinde fast aus, die Liste mit den Namen der jüdischen Bewohner ist erhalten, es sind 395, vermutlich mehr, als tatsächlich in der Stadt ansässig gewesen waren.[3] Eichmanns Vernichtungsbürokraten hatten die Menschen an verschiedenen Punkten versammelt, um sie nach Auschwitz zu schicken, insgesamt 430.000 Menschen, jedes dritte Opfer der „Todesfabrik“ stammte aus Ungarn.[4] Einige Jahre lang gab es nach 1945 noch jüdisches Leben, die Ereignisse von 1956 bewogen viele zur Flucht, die Gemeinde löste sich auf, die Synagoge wurde zerstört[5], doch der Friedhof blieb bestehen.
András Büchler bei der Weihe der Thorarolle am 3. Feber 2024.
Zum Anlass für die Neukonstituierung der Kultusgemeinde wurde die Renovierung des Friedhofs Anfang der 2000er Jahre, eine mustergültige Erneuerung, auch die Zeremonienhalle wurde restauriert.[6] Die kleine Gemeinde wird vom sehr aktiven Präsidenten Laszló Ligeti (Abbildung 2, rechts stehend) geleitet. Die Zusammenkünfte finden in einem Haus in der Kossuth-Strasse statt, an dessen Äusserem nichts auf seine Funktion als Synagoge hinweist. Eine kleine Villa hinter einem Gartenzaun, bei Veranstaltungen steht ein Mann vor dem offenen Gartentor, damit die Besucher sich nicht verlaufen.
Am 3. Februar 2024 fand dann ein besonderes Fest statt – die Thorarolle war wieder komplettiert worden und kehrte nach Mosonmagyaróvár, in einen Schrein in der Synagoge, zurück und wurde von Rabbiner Zoltán Radnóti aus Budapest eingeweiht.[7] Anwesend waren der Präsident der MAZSIHISZ, Dr. Andor Grósz und der Präsident der Kultusgemeinde Sopron, Dr. András Büchler sowie Gemeindemitglieder aus Moson und Sopron. Leider gibt es nach Auskunft von Herrn Ligeti keine schriftlichen Aufzeichnungen über das Schicksal der Thorarolle, nach mündlicher Überlieferung geht die Geschichte so: Im Krieg wurde die Rolle eingemauert, um sie zu retten, die wenigen Überlebenden der Shoah fanden sie wieder, doch als sich 1956 die Gemeinde auflöste, wurde sie nach Györ weitergegeben, wo es keine Thorarolle mehr gab. Dort kam diese aber nur in Teilen an, vor einigen Jahren verlangte Herr Ligeti sie zurück, doch fehlten Vorhang und Metallmontierungen.
Rabbiner Zoltán Radnóti bei der Lesung. Foto: István Kerekes.
Eine Thorarolle ist heilig, sie wird verehrt, begraben wie ein Mensch, darf nicht mit den Fingern berührt werden. Sie hat eine Stellung wie eine Göttin bei den Götzenanbetern, wie heilige Reliquien bei den Christen, für die eine Bibel nur ein Buch ist, ein besonderes, aber eben nur ein Buch. Die Thora aber ist heilig, und sie muss komplett sein. Ein neuer Vorhang wurde in Auftrag gegeben und es sprach sich in der Stadt herum, dass die Thorarolle restauriert wird. Alsbald kam ein Mann zum Gemeindehaus, der am Dachboden etwas gefunden hatte, was „jüdisch“ aussah: es waren die fehlenden Teile der Thorarolle. Tatsächlich handelte es sich um den Brustschild und die Rimonim.[8] Ein Wunder!
So ist jetzt alles wieder in Ordnung, die kleine Gemeinde, die mit den anderen neologen Gemeinschaften in Westungarn kooperiert, hat wieder ein komplett ausgestattetes Bethaus. Leider fehlt noch der Thorazeiger, was für den Rabbiner das Lesen sehr erschwert. Vielleicht kann jemand einen solchen spenden? Wir wünschen der kleinen Gemeinschaft ein gutes jüdisches Leben und mazal tov!
Feierliche Prozession der Thorarolle.
Alle Abbildungen: Ingrid Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
[1]https://www.derstandard.at/story/2000001513441/zahntourismus-mit-dem-shuttle-zum-neuen-gebiss abgerufen 01.04.2024
[2]https://www.jewishgen.org/yizkor/pinkas_hungary/hun358.html abgerufen 01.04.2024
[3]https://kehilalinks.jewishgen.org/mosonmagyarovar/inhabitants.htm abgerufen 04.04.2024
[4]Martin Josef Böhm, Juden in Ungarn. Deutsch-Ungarisches Institut für Europäische Zusammenarbeit, S. 4.
[5] http://magyarzsido.hu/index.php?option=com_catalogue&view=detail&id=215&Itemid=20 abgerufen 28.08.2024
[6]https://kehilalinks.jewishgen.org/mosonmagyarovar/cemetery.htm abgerufen 28.08.2024