Ausgabe

Richard Weihs am Semmering

Stephan Templ

Über die Erinnerungen des letzten Nachfahren der legendären Vorkriegs-Gesellschaft am Semmering, der noch dort lebt.

Inhalt

Richard Weihs ist der letzte am Semmering lebende Nachfahre der legendären dortigen Vorkriegs-Gesellschaft. Seiner Grosstante Henriette Weiss gehörte das weithin bekannte Sanatorium in Breitenstein am Semmering. Durch den frühen Tuberkulose-Tod ihres Mannes bewegt, gründete Henriette 1903 die Heilstätte in einer hoch über der Bahnstation Breitenstein gelegenen Villa mit wunderbarer Aussicht. Über die Jahrzehnte wuchs die Gesundheitseinrichtung dank Zubauten zum führenden Sanatorium der jüdischen Mittelschicht im Semmering-Gebiet. Freilich fand sich auch hier, gleich wie im mondänen Kurort Semmering, die literarische Gesellschaft mit Franz Werfel oder Walter Benjamin ein. Aber stets stand das soziale Engagement der Gründerin im Vordergrund, die dank der Einkünfte aus ihrer bürgerlichen Kundschaft auch Bedürftigen eine Heilung ermöglichte.

 

Henriette Weiss gründete in der Folge weitere Sanatorien und starb 1931 als geachtete, der Sozialdemokratie nahestehende Pionierin des Gesundheitswesens. Ihre Geschwister erbten das Sanatorium Breitenstein – doch nur für kurze Zeit sollten sie es behalten: 1938 wurde es enteignet und erst 1960 als Ruine zurückgestellt. In der Nachkriegszeit diente es als Baustoffquelle für den „Wiederaufbau“ der Nachbarschaft. Im Jahre 2000 wurde schliesslich Richard Weihs Alleineigentümer des ruinösen Baus und von der Gemeinde gezwungen, die übriggebliebenen Baulichkeiten des Sanatoriums vollständig zu entfernen – und somit die Geschichte zu entsorgen. Heimlich hatten die Behörden bereits 1992 das Land, auf dem das Sanatorium noch stand, illegal in Grünland umgewidmet, aber nicht etwa aus ökologischen Gründen, sondern aus rein pekuniären Überlegungen: indem man Grünland schafft, kann man woanders wieder Grünland in Bauland verwandeln. 

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Das Sanatorium Weiss in Breitenstein am Semmering. Ansichtskarte, künstlerische Darstellung nach einer Photographie, Fotocredit: Sammlung Weihs, mit freundlicher Genehmigung Gamuekl.

Der Raub geht weiter. Nicht nur beim Sanatorium Weiss ist man so verfahren: Auch das einst „arisierte“ und  spät zurückgestellte Nachbargrundstück der Familie Wachtl erlitt dasselbe Schicksal. Die Nachfahren der Wachtls leben in der Ferne, die Eigentümer wurden von diesen Schritten gar nicht informiert, sie wurden überrascht. Die Gemeinde setzte auf die vielleicht erlahmte Kraft, zu streiten und zu prozessieren, nochmals, nach „Arisierung“ und „Restitution“. So kann man heute noch von den „Arisierungen“ profitieren. 

Richard Weihs hat zumindest eine unübersehbare Gedenktafel für die Familie Wachtl erstritten – unübersehbar, falls die Gemeinde nicht (wie schon passiert) direkt davor ihren Mist ablädt. Richard Weihs ist auch anderweitig nicht untätig: so musste dank seiner Beharrlichkeit die Gemeinde Kurort Semmering die Strassen-Benennung nach dem „Gross­ariseur“ und ob seiner besonderen Brutalität bekannten ­Nationalsozialisten der ersten Stunde, Hermann Stühlinger, zurücknehmen. Den Vorschlag, die Strasse doch nach dem vertriebenen Kurarzt Viktor Hecht zu benennen, lehnte der Bürgermeister mit der Begründung ab, nach einem Juden würden keine Strassen am Semmering benannt werden. 

Im gerade erschienenen Buch von Richard Weihs ersteht noch einmal die Semmering-Welt vor 1938, dieses mondäne, ja urbane „Bergshtetl“ mit seiner in die Weltliteratur eingegangenen Flaniermeile zwischen den zwei Magneten: Dem Panhans und dem Südbahnhotel. Besonders ist der Semmering auch – und darin unterscheidet er sich von den sogenannten Sommerfrischen – weil alles auf der „grünen Wiese“ entstand, nach der Erschliessung durch die „Ghega-Bahn“: es hatte hier keine Kirche, keinen Friedhof, lediglich vereinzelte, eher bescheidene Bergbauernhöfe gegeben.  

Nach „Arisierung“ vieler Villen und Kureinrichtungen (Sanatorium Breitenstein, Wasserheilanstalt Marien­hof von Viktor Hecht) und Vertreibung der Eigen­tümer brach alles ein. Ein kurzes Wiederaufleben gab es ab den 1950er Jahren, als vor allem religiöse Juden aus Wien den Semmering für sich entdeckten. Die Pen­sion Alexander zwischen Panhans und Südbahnhotel an der Flaniermeile Hochstrasse gelegen verfügte über ein Gebetshaus und eine rituelle Küche. Die restituierte Hakoah-
Hütte
wurde zum Zentrum der Jugend um Edek Bartz und Marika Lichter

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Nachlese

Richard Weihs: Zertrümmerte Erinnerung am Semmering. 

Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, 2024.

448 Seiten, Euro 36,00.-

ISBN 978-3-903522-22-0

https://www.richardweihs.com