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Gesang oder Poesie Die Sopranistin Shira Karmon

Michael Bittner

Shira bedeutet „Stimme“ oder „Poesie“. Schon in die Wiege wurde Shira Karmon der Name als Bestimmung gelegt. Mit diesem schönen Namen kann man gar nichts anderes machen, als zu singen und zu dichten, das tat sie als kleines Mädchen, das tut sie heute als Liedsängerin, als Operndiva, als Interpretin jiddischer Lieder.

Inhalt

Shira Karmon wurde in Tel Aviv geboren, ihre Stimme erklingt heute meist in Wien, diese Stadt ist zu ihrer Bestimmung geworden. Die Eltern des Vaters waren um 1920 aus Ungarn nach Palästina eingewandert, die der Mutter 1935 aus Deutschland, ihr Vater Uri Karmon, ein Maler (siehe Abbildung 3) änderte den Familiennamen von Kremer auf Karmon. In der Familie wurden viele Arten von Musik gehört und gemacht, ein Studium an der Akademie in Tel Aviv folgte, dann der Sprung nach New York, wo Shira den Master in „Opera performance“ machte.[1] Ihr erstes Engagement fand sie in Saarbrücken, der Heimat ihres Grossvaters, dann folgte Berlin, dann Passau, wo sie eine Familie gründete. Doch sehnte sie sich nach einer Grossstadt mit jüdischem Leben – da war Wien die beste Wahl, seit 2014 hat sie hier ihren Lebensmittelpunkt, unterrichtet auch Hebräisch und fühlt sich in der Gemeinde sehr wohl. Zum Interview traf ich die sympathische Künstlerin am 28. August 2024 in einem Teehaus in der Wiener Innenstadt.

 

DAVID: Frau Karmon, warum ist Ihre Wahl auf Wien gefallen?

Shira Karmon: Nach der Zeit in Passau, wo wir unsere Kinder aufgezogen haben, hatte ich Sehnsucht nach der pulsierenden, internationalen Grossstadt – und der jüdischen Gemeinde. Ich habe in Israel gespürt, dass ich einen weiteren Horizont brauche, es gibt wenige Möglichkeiten, aber meine Kinder sind zweisprachig erzogen, deutsch und hebräisch.

 

DAVID: Welche Rolle spielt die jüdische Religion für Sie?

Shira Karmon: Ich bin säkulär aufgewachsen, in einer zionistischen Familie, da spielt Religion keine grosse Rolle. Aber jetzt, in Wien, ist die Gemeinde sehr wichtig für mich, ich hatte am letzten Rosch Haschana ein starkes spirituelles Erlebnis in der Synagoge, dann kam der 7. Oktober, jetzt ist meine jüdische Identität noch klarer. Ich bin sehr individuell, ich möchte nicht, dass ich in eine Schublade gesteckt werde.

 

DAVID: Nathan Milstein wurde einmal gefragt: sind Juden die besseren Musiker? Ist Musikalität mehr genetisch oder kulturell bedingt?

Shira Karmon: Geige und jüdische Seele gehören zusammen, Geige und jüdische Kultur, das gehört zusammen. Aber sonst glaube ich nicht, dass wir besser als andere sind. Was hat Milstein geantwortet?

 

DAVID: Dass er viele Juden kennt, die sehr schlecht spielen. Haben Sie Vorbilder, Sängerinnen, Sänger, andere Künstler?

Shira Karmon: Ich mag Renata Scotto sehr, auch Anne Sophie von Otter, dann José Carreras. Ich liebe überhaupt Filme, besonders Meryl Streep, auch Woody Allen. Und von den Politikern Yitzhak Rabin.

 

DAVID: Welche Zielgruppe sprechen Sie mit Ihrem Repertoire an?

Shira Karmon: Ich gestalte meine Programme möglichst vielfältig, nicht nur lauter Schubert-Lieder an einem Abend. Ich möchte Geschichten erzählen, ein Thema behandeln, wie auf meiner neuen CD „Shira“. Ich möchte auch mehr Opern singen und natürlich Jazz, ich liebe Jazz!

 

DAVID: Der in Auschwitz ermordete Komponist Viktor Ullmann – wie wichtig ist es für Sie, ihn nicht vergessen zu lassen?

Shira Karmon: Sehr wichtig, nicht nur wegen seines tragischen Schicksals, er schrieb gute Musik, in vielen unterschiedlichen Stilen, manches inspiriert von Alban Berg, manches vom Jazz.

 

DAVID: Was passiert mit Ihrer Stimme, wenn Sie Volkslieder singen? 

Shira Karmon: Da passiert wirklich eine Verwandlung, ein ganz anderes Gefühl, ungekünstelt, natürlich. Ich bin durch den Schallplattensammler Raymond Wolff auf jiddische Lieder gekommen und singe sie sehr gern, ich liebe die jiddische Sprache!

 

DAVID: Wie sind Sie auf die Idee für das Gedenkkonzert am 7. Oktober gekommen, warum finden Sie es wichtig, des grauenvollen Ereignisses mit Musik zu gedenken?

Shira Karmon: Musik öffnet unsere Herzen. Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 treffen uns alle unterschiedlich. Durch Musik können wir gemeinsam gedenken, und das gibt uns Kraft. Das hat mir das auch eine israelische Zuschauerin nach dem Konzert am 23. Oktober letzten Jahres gesagt. Im Programm befinden sich wunderschöne Musikstücke mit einem jüdischen Touch. Sie stammen von jüdischen und israelischen Komponisten aus der Zeit der Staatsgründung und erinnern uns an unsere Herkunft, unsere Tradition und unser Schicksal. Dies ist ein Kulturschatz für alle, er hilft uns, mit unserer Seele in Kontakt zu bleiben. Und das brauchen wir gerade jetzt dringend.

 

DAVID: Was werden Sie in nächster Zeit singen, welche Konzerte haben Sie geplant?

Shira Karmon: Am 22. September 2024 habe ich in London das Programm „Vienna: Fin de Siècle“ mit Liedern von Mahler, Weill und Korngold. Nach dem Gedenkkonzert am 7. Oktober in Wien wird es das Projekt „Identity“ geben, Kompositionen von Tsvi Avni nach Texten von Primo Levi, dann André Previn und Schönberg („Verklärte Nacht“), ein gemischtes Programm im Österreichischen Kulturforum New York am 29. Jänner 2025. Im Juni singe ich dann in Haifa das Trio aus dem „Rosenkavalier“ von Strauss, die schönste Opernmusik überhaupt. Es wird auch zwei neue CDs geben, das Cover zu meiner letzten CD „Little Cakewalk“ hat mein Vater Uri gemalt, ich bin stolz, dass ich ihn damit überraschen konnte, er ist 93 Jahre alt.

 

DAVID: Wie beurteilen Sie die politische Lage in Israel?

Shira Karmon: Ja, die ist schrecklich, es ist manches zerstört, alles, was in meiner Jugend noch intakt war. Ich mache mir Sorgen um die Infrastruktur, die Landwirtschaft, es braucht eine Perspektive für die Zukunft. Ich bin aufgewachsen mit dem Zionismus, den Kibbuzim, heute ist alles anders.

 

DAVID: Was müsste passieren, dass Sie nach Israel zurückkehren würden?

Shira Karmon: Na, wenn Hitler aufersteht … (lacht).

 

DAVID: Wenn Sie in die Zukunft blicken – was wird Ihnen wichtig sein?

Shira Karmon: Seit dem 7. Oktober bin ich leicht gestresst, suche nach Fakten, ich möchte auch auf Vorwürfe wegen des Gaza-Krieges in den Sozialen Medien antworten, man muss sich rechtfertigen. Wichtig ist, dass wir in Ruhe leben können, dass ich meinen Kindern ein stabiles Lebensgefühl geben kann. Israel soll sich erholen. Dass mich meine Eltern während des Krieges besuchen konnten, das war mein grösstes Geschenk.

 

(Interview gekürzt).

 

Das Gedenkkonzert zum 7. Oktober 2024 fand im Alten Rathaus in Wien statt. Shira Karmon sang mit „Triora“ – Mara Achleitner (Cello) und Mia Elezovic´ (Klavier) Lieder von Gustav Mahler, Eyal Bat, Previn, Mordechai Zeira, Nachum Heiman, Louis Lewandowski und Maurice Ravel. Ein bewegender Abend, der dem Anlass völlig gerecht wurde, das Schlusslied, das von Ravel vertonte Kaddisch, trieb vielen im Publikum Tränen in die Augen.

 

Zum Abschluss noch Zeilen aus einem Gedicht von Shira Karmon:


Wie würde ich in allen Sprachen der Welt beten, dass die Menschen wach bleiben,

Dass sie gegen den Untergang der individuellen Freiheit stehen.

Nur so könnte jeder Mensch sein, was er wollte.

Ein Mensch.“[2]

 

 

Weitere Informationen auf https://shirakarmon.com.

 

 

 

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Shira Karmon. Foto: Georg Buxhofer.

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Spirit-of-Hope, Cover, mit Paul Gulda.

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Little Cakewalk, Cover, artist: Uri Karmon.

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Gustav Mahler, Lieder eines fahrenden Gesellen.

 

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung M. Bittner.

 


[2] Typoskript der  Künstlerin