Zur Geschichte einer jüdisch-christlichen Familie
Wer mit der Bahn in der „Sommerfrische“ Payerbach ankommt, sieht am südlichen Abhang die grüne Kuppel der Friedhofskapelle. Vom Pfarrfriedhof aus gesehen, erhebt sich am oberen nördlichen Ende des Friedhofes eindrucksvoll die „Erlanger Gruftkapelle“, aus Naturstein gebaut, der Portikus mit seitlichen, den Torbogen tragenden Säulen mit ihren Basen und Kapitellen, darüber das Giebeldreieck mit dem Erlanger Familienwappen. Darunter die Inschrift „Wer an mich glaubt wird leben“. Die Kapelle ist durch ein zweiflügeliges schmiedeeisernes Tor und dahinter durch ein vierfach gefaltetes Holztor zugängig. Zu beiden Seiten finden sich die Apsiden mit ihren Halbkuppeln. Oben ist die Kapelle durch die Hauptkuppel, mit einem Kreuz darauf, bedeckt. Der imponierende Anblick lässt erahnen, dass es sich um ein besonderes Denkmal handelt. In der Kapelle befindet sich an der Stirnseite der Altar. Seitlich in den Apsiden sind Betbänke. Über dem Altar erhebt sich das Altarbild, das Christus mit zwei Engeln zeigt. An der rechten unteren Bildkante ist die Signatur „1880 F. Laufberger“ erkennbar. Ferdinand Laufberger (1829–1881) wurde von Gustav Klimt (1862–1918) als einer seiner wichtigsten Lehrer verehrt. An den Wänden befinden sich Gedenktafeln mit Namen von Familienangehörigen der Familie Erlanger.
Aussenansicht der Erlanger-Gruftkapelle auf dem Pfarrfriedhof in Payerbach.
Leider ist das Innere der Kapelle durch vom nördlichen Hang her eingedrungenes Wasser schwer beschädigt worden. Eine restauratorische Befunduntersuchung 2021 im Auftrag der Pfarre Payerbach und teilweise finanziert durch das Bundesdenkmalamt Niederösterreich ergab, dass es sich um ein einmaliges Kulturdenkmal handelt, wie es wahrscheinlich kein zweites gibt. Die Untersuchungen zeigen, dass sich ursprünglich das Innere nach oben hin sehr farbenfreudig und hell präsentiert hatte. Theologisch betrachtet liess sich durch diese Gestaltung die Herrlichkeit des Herrn erahnen.
Die Kapelle wurde im Auftrag von Viktor Alexander Freiherr von Erlanger (1840–1894) nach den Plänen des „Ringstrassenarchitekten“ k.k. Hofbaurat Heinrich Freiherr von Ferstel (1828–1883; Pläne 1880) im Renaissancestil errichtet. In ihr fanden der Freiherr von Erlanger, seine Ehefrau Henriette und eventuell weitere Familienmitglieder ihre letzte Ruhe- oder zumindest eine Gedenkstätte.
Victor Alexander Freiherr von Erlanger; In: Die Bombe Jg. 7 (1877), Nr. 17, 29.4.1877, S. 131. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Victor_Erlanger_1877_Laci.v.F.png?uselang=de
Die Familie Erlanger
Viktor Alexander Freiherr von Erlanger war Bankier und entstammte einer Familie von Bankiers, Mäzenen und Künstlern (Gabriele Mendelssohn). Er wurde am 10. Juni 1840 in Frankfurt am Main geboren und starb am 9. September 1894 in Genf. Er und sein Bruder Ludwig Gottlieb Friedrich gingen aus der zweiten Ehe ihres Vaters Raphael Freiherrn von Erlanger mit Ida Maria Albert hervor. Raphael Erlanger wurde am 27. Juni 1806 in Wetzlar geboren und entstammte einer jüdischen Familie. Sein Vater hiess Löb Moses, später Ludwig Moritz Erlanger. Raphael, zunächst Makler, hatte ein Bank- und Wechselgeschäft angefangen und widmete sich dann ausschliesslich dem Bankgeschäft in Frankfurt. 1853 gründete er die Weimarische Bank, 1856 die Luxemburgische Bank. Im Jahr 1859/60 wurde er vom Herzog von Sachsen-Meiningen in den Adelsstand und 1871 von Kaiser Franz Joseph I. in den österreichischen Freiherrenstand erhoben.
Raphaels erste Frau war Margarethe Helene Albert. Als sie ein Kind von ihm erwartete, war eine Eheschliessung zunächst nicht möglich, da sie katholisch war und nach dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 konfessionelle „Mischehen“ verboten waren (Christian Neschwara, Stefan Schima). Eine Ablehnung solcher Mischehen wurzelte aber auch im jüdischen Recht. Jüdische Rechtsgelehrte lehnten Ehen zwischen Juden und Christen grundsätzlich ab. Diese Ablehnung war auch gewohnheitsrechtlich „eingeübt“. Ein Übertritt vom christlichen Bekenntnis zum Judentum war bis 1868 staatsrechtlich nicht zulässig und so hätte Margarethe Helene Albert nicht zum jüdischen Glauben konvertieren können. Nur durch den Übertritt von Raphael Freiherr von Erlanger zum christlichen Glauben war der Weg zu einer rechtlich gültigen Eheschliessung möglich. Margarethe Helene starb ein Jahr nach der Geburt ihres dritten Kindes. Nach ihrem Tod ehelichte Raphael Freiherr von Erlanger am 6. April 1861 Ida Maria Albert, ihre Schwester. Dieser Ehe entstammten Ludwig Gottlieb Friedrich Freiherr von Erlanger und Viktor Alexander Freiherr von Erlanger. Nach dem Tod von Raphael Freiherr von Erlanger übernahm Ludwig Gottlieb Friedrich die Geschäfte des Bankhauses in Frankfurt, sein Bruder Viktor Alexander die Leitung des Bankhauses Erlanger in Wien.
Altarbild von Ferdinand Laufberger.
Viktor Alexander ehelichte am 6. April 1861 Henriette von Bognar (geboren am 18.12.1840 angeblich in Russland, gestorben am 5.6.1905 in Hall/Tirol). Der Ehe entstammen vier Kinder, die alle in London geboren wurden, wo die Familie eine Zeit lang auf dem Anwesen des älteren Halbbruders Frédéric Emile Baron d’Erlanger lebte. Viktor Alexander erhielt 1872 von Kaiser Franz Josef I. (als König von Ungarn) die Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie von Győr bis zur Landesgrenze bei Neufeld an der Leitha, die 1879 eröffnet wurde. Aus dieser Bahn ging die Raab-Oedenburg-Ebenfurter Eisenbahn AG hervor, die sich heute in ungarischem Besitz befindet, und deren gelb-weisse Züge mit der Aufschrift „Ventus“ nicht nur auf der Stammstrecke zu sehen sind.
Grabinschriftenplatte für Victor Alexander Frh. v. Erlanger.
Grabinschriftenplatte für Henriette Freiin v. Erlanger geb. v. Bognar.
Innenansicht, Blick in die farbig ausgestaltete Kuppel der Gruftkapelle Erlanger.
Im Jahr 1873 kaufte Viktor Alexander in Reichenau an der Rax das Schloss Trautenberg vom Komponisten Friedrich von Flotow. Flotow hatte hier an der Oper L`Ombre gearbeitet, die dann 1870 in Paris ihre Uraufführung hatte. In Reichenau wurden der Erlanger Park und das Erlanger Kreuz nach Viktor Alexander von Erlanger benannt. 1891 ging der Besitz auf seine Tochter Adolfine nach ihrer Verehelichung mit Alfred Wilhelm Karl Alexander Graf Salm-Hochstraeten (1851–1919) über. Die Familiengruft Salm-Hochstraeten befindet sich ebenfalls auf dem Pfarrfriedhof von Payerbach. Viktor Alexander starb am 9. September 1894 in Genf. Seine letzte Ruhestätte fand er in der von ihm erbauten Kapelle am Pfarrfriedhof von Payerbach. Seine Ehefrau Henriette ist ebendort beigesetzt.
Schade, dass dieses kulturelle Schmuckstück jüdisch-christlicher Kultur bislang mangels ausreichender Mittel nicht restauriert werden konnte. Obwohl das Bundesdenkmalamt Niederösterreich angesichts der kulturellen Bedeutung des Bauwerkes eine besondere Unterstützung in Aussicht gestellt hat, übersteigt die Finanzierung die Möglichkeiten des Friedhofseigners. Vielleicht lässt sich die Restaurierung mit der Unterstützung von Mäzenen doch noch verwirklichen.
Post scriptum sei noch erwähnt, dass sich die Familie des Sohnes von Raphael Freiherrn von Erlanger in Nieder-Ingelheim gemeinnützig engagierte, Kultur und Geschichte förderte und sich als Mäzenin betätigte. Auch durch das Engagement der Familie des ältesten Sohnes von Raphael Freiherrn von Erlanger, Emile Frédéric Baron d’Erlanger, Begründer des französisch-englischen Zweiges, konnten zahlreiche Unternehmungen verwirklicht werden (Gabriele Mendelssohn).
Grabmal von Raphael Frh.v. Erlanger, Frankfurt am Main, Hauptfriedhof, Grab C 83-85. Foto: Karsten Ratzke. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://de.wikipedia.org/wiki/Raphael_von_Erlanger#/media/Datei:Frankfurt,_Hauptfriedhof,_Grab_C_83-85_von_Erlanger.JPG
Palais Erlanger, Wien 4, Argentinierstrasse 33, umgebaut von Carl König und Oskar Laske 1889 im Auftrag von Victor A. Frh.v. Erlanger. Foto: Erich Schmid. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/30/Palais_Erlanger_Argentinierstr_33.JPG
Erlanger Hospital Baroness Campus in Chattanooga, Tennessee, U.S.A., gegründet 1889 von Baron Frédéric Emile d’Erlanger und benannt nach seiner Ehefrau Baroness Marguerite Mathilde Slidell d’Erlanger, Foto: Erlangerhealth. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Utcom123876.jpg
Quellen
Stammbaum der Familie Erlanger, In: Gabriele Mendelssohn, Die Familie Erlanger, Bankiers, Mäzene Künstler, Leinpfad Verlag, März 2005. (ISBN 3-937782-24-9)
Gustav Klimts Lehrer 1876-1882, sieben Jahre an der Kunstgewerbeschule, S. 59-60, und S.174 (Abbildung); 2021 Otmar Rychlik, Edition Kunst/Agentur. (ISBN 978-3-9503771-5-6)
Konfessionell gebundene Ehehindernisse im Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch; Christian Neschwara, In: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRG) 2018; https://www.austriaca.at/0xc1aa5576%200x0039014b.pdf (zuletzt aufgerufen 2024-11-10).
Das Eherecht des ABGB 1811; Stefan Schima, In: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRG) 2012; https://austriaca.at/0xc1aa5576%200x002c7e59.pdf (zuletzt aufgerufen 2024-11-10).
http://www.architektenlexikon.at/de/1051.htm - Werke
https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Alexander_von_Erlanger
https://www.parkhotelhirschwang.at/geschichte/ (zuletzt aufgerufen 2021-04-27; Geschichte [des Parkhotels Hirschwang]
https://www.wikidata.org/wiki/Q1526170
Erlangerkapelle, In: Norbert Toplitsch: Pfarrkirche St. Jakob der Ältere, S.50-51, Heimatverlag 6858 Schwarzach, 2012, 2. Vermehrte und veränderte Auflage des von Erich Handlik 1979 erschienenen Kirchenführers von Payerbach.
Photographien der „Erlanger Gruftkapelle“ (Kurt Pultar, Romeo Reichel)
Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung R. Reichel und K. Pultar.