Ausgabe

Endlich Zeit für widerstreitende Gefühle

Kerstin Kellermann

Im Wiener Jüdischen Museum begann die spannende Ausstellung „Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“. 

Inhalt

„Sonst bin ich immer für zurückhaltende Ausstellungsarchitektur“, sagt die Direktorin des Jüdischen Museums Wien, „aber in Bezug auf die dritte Generation nach dem Holocaust geht es um Gefühle!“ Sollte es nun, bei den Enkeln der Holocaust-Überlebenden, endlich auch um widerstreitende, widerspenstige, widersprüchliche Gefühle gehen dürfen?

 

„Als ich den Film auf der Leinwand sah, zitterte ich“, erzählt die bisher unbekannte Cutterin von Claude Lanzmanns Film „Shoah“. Ihre Stimme klingt so, als ob immer Tränen mitschwingen würden. Ziva Postec, deren Verwandte ermordet wurden, arbeitete sechs Jahre lang eng mit Lanzmann. „Lanzmann war der Einzige, der verstand, was wir durchgemacht hatten.“ Bei der Film-Premiere suchte sie deshalb seine Nähe:

„Warum folgst du mir?, fragte er mich. Er wollte nicht, dass ich ihm nahe bin. Danach war ich wirklich krank, ich war wie eine Überlebende, aber ich sagte mir: Steh auf, Mädchen, il faut se bouger.“ Es ist Zeit zu gehen. „Das war das Ende eines Tunnels.“

 

Ziva Postec beschloss, alles hinter sich zu lassen und wanderte nach Canada aus. Im Film „La monteuse derriere le film Shoah“ (Canada, 2018) sieht man ein Flugzeug und die verschwommenen Nachtlichter einer Stadt.

 

Ein Memory Jar, ein kleines Glas mit „Erde aus dem Massengrab in Trachimbrod“, ein anderes mit „Blättern eines Birnbaums in Lysche“ – manche KünstlerInnen finden Trost in Gegenständen. „I now have fifty jars“, erzählt Esther Safran Foer, „something about the physicality that‘s a real connection“. An jedem Massengrab in der heutigen Ukraine begrub Foer ein beschriftetes Familienfoto, „nachdem ich Kaddisch gesagt hatte.“

 

Im Film „Back to the Fatherland“ (2018) sieht man die Miniatur-Eisenbahn-Landschaften von Österreich, Theresienstadt und Israel, die Uri Ben-Rehav sorgsam gebaut hat. Ein kleiner, roter Waggon steht in einem Schaukasten: „Auch ein Modell des Waggons, in dem er mit seiner Mutter und seinem Bruder deportiert worden ist, ist Teil dieser Welt.“ Der Enkel Guy kneift im Film die Augen ständig zusammen, als ob er das Bild scharf stellen wolle.

 

Die Künstlerin Dwora Fried baut in hölzerne „Gedächtnisboxen“ vom Flohmarkt die Geschichte ihrer Familie ein. Eine schwarze Kiste heißt „Sigmund“ (2023) und es findet sich neben kleinen Trachtenpuppen auch ein Foto der Künstlerin als Mädchen beim Wiener Eislauf-Verein. Dwora Fried fand Hakenkreuze in der Schublade ihres Vaters, der in Palästina überlebt hatte und einmal behauptete, wenn er kein Jude sei, wäre er eventuell ein Nazi geworden! „Meine Mutter konnte mich als Baby nicht füttern“, erzählt sie bei der Pressekonferenz mit steinerner Miene, „weil sie es nicht ausgehalten hat, wenn Babies in der Nacht schreien. Das erinnerte sie an die Nazis, die Babies aus dem Fenster schmissen!“ Ihre Mutter redete erst mit den Enkeln über Auschwitz. „Ich dachte immer, sie wird tot umfallen, wenn ich sie etwas frage“.

 

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung JMW.

filmstillausbacktothefatherlanddokumentarfilmcgreenkatproductions.jpg

Filmstill aus Back to the Fatherland. Regie: Kat Rohrer und Gil Levanon 2018. Mit freundlicher Genehmigung von GreenKat Productions.

sigmund-fried-hochaufloslich.jpeg

Dwora Fried: Sigmund. Holz, Fotos, Plastikpuppen 2023.