Ausgabe

Widerstand und Verfolgung in Rudolfsheim-Fünfhaus

Michael Bittner

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Inhalt

Manfred Mugrauer: Widerstand und Verfolgung in Rudolfsheim-Fünfhaus 1938-1945. Eine Dokumentation.

Herausgegeben vom Museumsverein Rudolfsheim-Fünfhaus in Kooperation mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien 2024.

Broschiert, 228 Seiten. Preis: Spende.

Keine ISBN.

Zu den Öffnungszeiten im Museum erhältlich.

Zu bestellen hier: https://www.museum15.at/museums-shop

 

Jedes politische System hat seine eigene Strategie der Geschichtsschreibung, jeder Historiker bringt seine eigene Meinung, seine politische Haltung, das Zeitkolorit in die historische Abhandlung ein. Tacitus meinte beschwörend, man solle die Geschichte „sine ira et studio“ beschreiben, doch niemand tut es – auch Tacitus selbst tat es nicht, und heutige Historiker schon gar nicht. Warum gibt es dieses Thema überhaupt? Ein kleiner Wiener Bezirk, heute der ärmste Österreichs, wird herausgegriffen, er bestand zur NS-Zeit noch gar nicht und über Widerstand gegen die Hitlerdiktatur zu schreiben, ist ein Randthema geworden – früher war es wegen des Moskauer Memorandums wichtig, einen Kampf der Österreicher gegen die Nazis zu konstruieren, aber macht es heute noch Sinn?

 

Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis bringt Aufklärung: Zuerst wird sozialdemokratischer Widerstand abgehandelt, auf gleich acht Seiten, denn viel war da nicht los, die Arbeiter fühlten sich in der NSDAP bald heimisch, aber der rote Bezirk bzw. der Herausgeber verlangt eine solche Geschichtsschreibung. Daher kommen zuerst „unsere Leut'“. Dann der kommunistische Widerstand, den gab es ja wirklich, und die KPÖ ist auch eine linke Partei und daher sympathisch, da gab es einiges zu schreiben, über 90 Seiten. Dann kommen die Monarchisten, dann die Opfer der Militärjustiz, und schliesslich die Juden, auf neun Seiten abgehandelt, die sind offenbar nicht sympathisch und werden nur summarisch erwähnt, obwohl über 1.000 von ihnen von den Nazis umgebracht wurden. Sie sind die primären Opfer der Diktatur gewesen, macht nix, die paar Roten sind wichtiger. Diesen ist auch ein eigenes Kapitel über den Spanischen Bürgerkrieg gewidmet, das mit dem Hauptthema wenig zu tun hat.

 

Bezirksgrenzen sind in Wien keine Ghettomauern, daher kommen auch Menschen aus anderen Bezirken, die beispielsweise am Westbahnhof arbeiteten, im Buch vor. Juden, die im Bezirk ansässig waren und Opfer der Nazis wurden, fehlen aber, wie die Familie Pollak, die das Café Palmhof betrieb und im Haus wohnte, dieses ist heute noch im Besitz der Familie. Auch Bibrings fehlen, sie betrieben ein Kleidergeschäft auf der Mariahilferstrasse 172 und wurden ermordet, ihre Kinder kamen mit dem Transport nach England und Harry Bibring erhielt vor einiger Zeit den „Order of the British Empire“. Aber die Juden spielen in dieser Darstellung keine besondere Rolle, nicht einmal der berühmte Fritz Hochwälder, der ein waschechter Rudolfsheimer war und sich nur durch das Durchschwimmen des Rheins in die Schweiz retten konnte. Aber Juden zählen nicht viel im sozialdemokratischen Blick auf die Geschichte, man versteht jetzt besser den Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober aus dieser Ecke bläst.

 

Also wofür dann dieses Buch? Es ist ein Buch für Leser. Bei aufmerksamer Lektüre bemerkte ich, wie mein Mitgefühl für die Opfer immer grösser wurde. Die sachliche Sprache des Autors, der trockene Schreibstil, lässt die Schicksale sich vor dem geistigen Auge entfalten und erzielt eine hohe emphatische Wirkung. Diese ist viel stärker als die Empfindungen, die melodramatisch ausgeschmückte Hollywoodstreifen über den Holocaust hervorrufen. Nach der Lektüre war ich so froh, dass ich erst nach dem Krieg geboren worden bin. Ich freue mich schon darauf, das Buch bald wieder zu lesen. Obwohl ich mir eine ausführliche Darstellung der Judenverfolgung gewünscht hätte, auch über jüdische Schicksale gerne gelesen hätte, Material gäbe es ja genug, wenn man an das Projekt „Dreieck meiner Kindheit“ von 2008 denkt.