Ausgabe

Istanbul: Kleines Museum, grosse Geschichte Von den osmanischen Herrschern mit offenen Armen empfangen

Charles E. Ritterband

Hinter dicken Eisentüren verborgen, von einem Wächter in seiner Glaskabine 24 Stunden beschützt und nur unter Vorweisung des Reisepasses zu betreten: Das kleine, aber feine Museum der türkischen Juden, nur wenige Schritte abseits vom Touristenrummel um den hoch aufragenden Galata-Turm, das Wahrzeichen von Istanbul.

Inhalt

Gegründet wurde das Museum der türkischen Juden im Jahr 2001 – zum Gedenken an die rund fünf Jahrhunderte zuvor erfolgte Flucht der sefardischen Juden ins Osmanische Reich. An seinen heutigen Standort verlegt, wo es mit der wunderschönen Neve Shalom Synagoge in direktem Zugang verbunden ist, wurde es erst vor neun Jahren. Auf den Schautafeln des Museums wird demonstrativ hervorgehoben, wie offenherzig die Osmanen jenen ab dem 2. August 1492 aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden – insgesamt sollen es rund 120.000 gewesen sein – eine neue Bleibe angeboten hatten. Sultan Mehmet II., der 1453 Konstantinopel erobert und damit dem christlich-byzantinischen Reich (das die Juden nicht eben zuvorkommend behandelte) ein Ende gesetzt hatte, berief sich auf G‘tt, der ihm befohlen habe, die Nachkommen Abrahams und Jakobs unter seinen Schutz zu nehmen und ihnen anzubieten, „sich in Frieden und im Schatten der Feigenbäume in Istanbul niederzulassen“. 

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Historische Thorarollen im Museum der türkischen Juden, Istanbul. 

Sultan Bayezid II. (1481–1512) hatte ein Dekret erlassen, in welchem er verkündete, dass – weit entfernt davon, den aus Spanien geflüchteten Juden den Zugang zu verwehren – diese mit „vollkommener Offenherzigkeit“ willkommen geheissen werden sollten. Mehr noch: der Sultan drohte gar ­jedem, der diese Flüchtlinge mit Verachtung behandle oder diesen Schaden zufüge, mit der Todesstrafe.

 

Und so findet man denn auch auf weiteren Tafeln die erfreuliche Fortsetzung: Die türkischen Juden hätten stets Loyalität zu ihrer neuen Heimat, der Türkei, bewiesen. 

 

Sie seien oft Universitätsprofessoren gewesen, hätten zahlreiche Auszeichnungen in verschiedenen Bereichen, von Medizin bis Musik, Literatur bis Erziehung erworben. Sie hätten hohe Stellungen im osmanischen Parlament und später jenem der türkischen Republik bekleidet, seien in Regierungspositionen aufgerückt, in Wirtschaft und Handel, im Recht und in der Medizin erfolgreich gewesen, hätten als ­Offiziere gedient und in den Sicherheitsdiensten gearbeitet. 

Die Türkei bemüht sich, auch die Pose des Retters jüdischer Verfolgter des NS-Regimes einzunehmen. Doch dieser Mythos widerspricht krass der Realität: Tausende von türkischen Juden – Staatsbürger oder (oft unter fadenscheiniger Begründung) ausgebürgerte und damit staatenlose ehemalige Angehörige des einstigen osmanischen Imperiums und der späteren türkischen Republik – wurden in den Vernichtungslagern Auschwitz und Sobibor, in den Konzentrationslagern Mauthausen, Buchenwald und Ravensbrück in den Gaskammern ermordet oder zu Tode gequält, ohne dass sich die türkischen Behörden um ihr Schicksal gekümmert hätten. Zwischen 2.200 und 2.500 Juden sollen in den Vernichtungslagern ermordet worden sein, 300 bis 400 kamen in andere Konzentrationslager

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Blick in eine der aufwendig gestalteten Museumsvitrinen.

Über dieses schwarze Kapitel schweigt das Museum geflissentlich – die Schautafeln behaupten hingegen, die Türkei sei während des Zweiten Weltkrieges „eine sichere Passage“ für jene Verfolgten gewesen, welche den Nazi-­Schrecken entrinnen konnten. Tausende seien „sicher nach Palästina gelangt“. Zwei Flüchtlingsschiffe, Struma und Mefküre seien von sowjetischen Torpedos versenkt worden, die Salvator sei in einem Sturm gesunken. Kein Wort über die türkischen Juden in den Gaskammern der Nazis.

 

Der „Frieden im Schatten der Feigenbäume“, welchen Sultan Mehmet den spanischen Flüchtlingen verheissen hatte, wurde ein halbes Jahrtausend später jäh unterbrochen, als in den 1950er Jahren gewalttätige Ausschreitungen gegen türkische Juden ausbrachen und am 15. November 2003, zwei Jahre nach Gründung des Museums, ein Terroranschlag islamistischer Terroristen vierundzwanzig Todesopfer forderte. 

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Im Museum sind viele sehr schön erhaltene historische Ritualgegenstände ausgestellt.

Das Museum zeigt in Schaukästen einzigartige Juwelen aus seiner Sammlung – Thorarollen mit wunderbaren Silberaufsätzen und reich bestickten Brokathüllen sowie Esther-Rollen in kostbaren Schatullen. Es gibt Auskunft über jüdisches Leben, den Jahresablauf und insbesondere die jüdischen Feste. Besondere Attraktion ist ein Balkon, der durch den prachtvollen Innenraum der grössten der heute noch aktiven einundzwanzig Synagogen der Millionen-Metropole Istanbul führt: Die Neve Shalom Synagoge aus dem Jahr 1951. 

 

Entgegen ihrer Namensgebung, „Oase des Friedens“, wurden gegen das G‘tteshaus bereits drei Terroranschläge verübt: Am 6. September 1986 von palästinensischen Terroristen, welche fünfundzwanzig Gemeindemitglieder töteten. Ein Bombenanschlag am 1. März 1992 verlief dank des raschen und professionellen Eingreifens der Sicherheitskräfte glimpflich und ohne Opfer. Doch dann erfolgte jener erwähnte Anschlag des Jahres 2003, der sechs Gemeindemitgliedern und achtzehn Muslimen das Leben kostete.

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Blick in den Innenraum der Neve Shalom Synagoge, der vom Museum aus betreten werden kann.

 Die Zahl der türkischen Juden wird heute auf 17.000 Personen geschätzt; 96 Prozent von diesen haben sefardische Ursprünge. Die soeben im Untergeschoss des Museums eröffnete Ausstellung über sefardisch-türkische Kultur befasste sich bis zum 14. Mai 2023 unter dem Titel „Sefardische Aromen“ mit der reichen türkisch-sefardischen Kultur. 

 

Alle Fotos: cer, mit freundlicher Genehmigung.