Ausgabe

Rosch Haschana 5784/2023

Rabbiner Joel Berger

Inhalt

Rosch Haschana ist ein andachtsvoller Feiertag, an dem die ganze Welt durch den Allmächtigen gerichtet wird und sich unser Schicksal für das kommende Jahr entscheidet. Wir verbringen einen grossen Teil des Tages im ­Gebet und verkünden G’ttes Königreich und Seine Herrschaft über die Welt. Diese Verkündigung ist eine Bestätigung unserer Akzeptanz der G’ttlichkeit des Herrn und Seiner Herrschaft über uns. Sie drückt unsere Gefühle aus: dass wir versuchen, uns an Seine Gebote zu halten, und dass die Befolgung Seines Wortes unser Leben bestimmt. Der Ausdruck von G’ttes Königreich dient auch als Erinnerung an vergangene Ereignisse.

 

Rosch Haschana, der Beginn des jüdischen Neuen Jahres, ist der Jahrestag der Erschaffung der Welt. In den Rosch Haschana-Gebeten rezitieren wir: „Dieser Tag ist der Beginn Deiner Werke, das Gedenken an den ersten Tag der Schöpfung.“ Wir lesen im Talmud (Traktat Rosch Haschana 27a), dass unsere Grundlage für das Sprechen dieses Verses in den Gebeten, die Meinung des Gelehrten Rabi Elieser ist, der sagte, dass „die Welt im Monat Tischri erschaffen wurde“.

 

Die Bedeutung des Ausdrucks „Erschaffung der Welt“ ist jedoch nicht so eindeutig, wie es scheinen mag. Der Talmud (Traktat Rosch Haschana 31a) schreibt, dass wir am Freitagabend, zum Beginn des Schabbat-G’ttesdienstes, den Vers „Der Herr ist König, bekleidet mit Hoheit; der Herr hat sich bekleidet und mit Macht umgürtet“ (Psalm 93) rezitieren, weil Sein Schöpfungswerk an diesem Tag vollendet wurde und Er dann über die Welt herrschte. Einer unserer Weisen erklärt, dass G’tt den Rest der Welt ­erschaffen hat, bevor er am Freitag den Menschen erschuf. Die Bezeichnung „König“ war für G’tt jedoch erst nach der Erschaffung des Menschen angebracht. Er erklärt weiter, dass Rosch Haschana eigentlich der Jahrestag der Erschaffung des Menschen und damit die Vollendung der Schöpfung ist. Aus diesem Grund sagen wir, dass dieser Tag, Rosch Haschana, den Beginn der Herrschaft G’ttes als König über die Welt ­darstellt.

 

Warum hat das Königreich G’ttes sozusagen erst mit der Erschaffung der Menschheit begonnen? Der Mensch hat die Fähigkeit, zu denken, Logik anzuwenden und Entscheidungen zu treffen. Es liegt in seiner Hand, welchen Weg er einschlagen will. Er kann sich dafür entscheiden, die Herrschaft G’ttes anzunehmen und seine Handlungen an das Wort G’ttes anzupassen. Ein Mensch kann sich auch dafür entscheiden, G’tt zu missachten und stattdessen seinen eigenen Wünschen und Sehnsüchten zu folgen und sogar einen Weg einzuschlagen, der nicht mit den Geboten G’ttes übereinstimmt. Ein wahrer König ist kein Diktator. Ein König ist ein Herrscher, den das Volk aus freien Stücken an seine Spitze gesetzt hat. Ein König führt, wenn seine Untertanen seine Herrschaft akzeptieren und bereit sind, seinen Befehlen zu folgen, ohne dazu gezwungen zu werden. Vor der Erschaffung Adams gab es andere Schöpfungen. Es gab andere Lebewesen. Doch keines dieser Lebewesen hatte die Macht, G’tt als seinen Herrscher anzunehmen. Nur der Mensch hat die intellektuelle Fähigkeit, eine solche Wahl zu treffen, die auf dem freien Willen beruht. Erst mit der Ankunft Adams konnte G’tt in angemessener Weise als König „angerufen“ werden.

Rosch Haschana ist also nicht nur der Jahrestag der Schöpfung. Es ist auch der Jahrestag des „Beginns“ von G’ttes Herrschaft über die Menschheit. Unsere Verkündigung von G’ttes Königreich erinnert daran, dass Adam, der erste Mensch, der erste königliche Untertan war, der G’tt als seinen König anerkannte und Ihm huldigte. 

 

An Rosch Haschana sollten unsere Gebete die von Adam getroffene Wahl bekräftigen. Wir sollten zum Ausdruck bringen, dass wir G’tt als unseren König, als unseren einzigen Herrscher anerkennen, als das höchste Wesen, vor dem wir an diesem Tag vor Gericht stehen. Indem wir unsere Akzeptanz von G’tt als unserem König zum Ausdruck bringen, zeigen wir anschaulich, dass alle Handlungen, die wir getan haben und die nicht mit G’ttes Wort übereinstimmten, keine Akte des Widerstands waren. Diese Handlungen waren vielleicht Fehltritte in unserer Hingabe; sie waren Anlässe, zu denen wir dem „bösen Trieb“ nachgaben, wider unser besseres Urteilsvermögen. Indem wir zum Ausdruck bringen, dass wir G’tt als König anerkennen, bitten wir Ihn im Wesentlichen darum, dass Er uns ein Jahr schenkt. Seine Unter­tanen sehnen sich danach, loyal zu sein, sie haben sich alle Mühe gegeben, treu und hingebungsvoll zu handeln, und ihre Verfehlungen sollten nicht als Akt der Untreue betrachtet werden, sondern als Fehler, die wir im Lichte dieses Festes bereuen. Möge jeder Einzelne von uns ein solches Jahr voller Gesundheit, Glück und Segen erleben.