Sabine Mayr
Tine Bovermann: Zionistinnen. Gegenwartsarbeit als frauenpolitisches Konzept in der zionistischen Bewegung in Deutschland.
(= Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne.
Hg. von Joachim Schlör, Band 25)
Berlin: Neofelis Verlag 2022.
324 Seiten, Euro 29,00.–
ISBN: 978-3-95808-347-9
Was bewegte und bewirkte zionistische Frauenpolitik in Deutschland? Dieser Frage geht die Historikerin und Soziologin Tine Bovermann in ihrer Studie „Zionistinnen. Gegenwartsarbeit als frauenpolitisches Konzept in der zionistischen Bewegung in Deutschland“ nach. Dazu analysiert sie öffentliche Debatten, die in den Jahren zwischen 1902 und 1920 in der Jüdischen Rundschau ausgetragen wurden. Die feministische Perspektive ermöglicht eine differenzierte Betrachtung des Zionismus. Die Autorin verortet deutsche zionistische Frauen als politische Akteurinnen, die in den rekonstruierten Debatten unterschiedliche politische Räume entwarfen, diese geschlechtlich konnotierten und in die zionistische Bewegung integrierten. Vor allem ihr kulturzionistisches Engagement förderte ihre Emanzipation.
Die Partizipation von Frauen am Zionismus ist wie der Politische Zionismus bereits gut erforscht, resümiert Bovermann den aktuellen Forschungsstand. Frauen wurden im Rahmen von Wohlfahrtsarbeit aktiv, aber auch, indem sie als Delegierte zu den Zionistischen Kongressen reisten, sich in den gemischtgeschlechtlichen Ortsgruppen organisierten, an zionistischen Veranstaltungen teilnahmen, Spenden sammelten, sich in den jüdischen Gemeinden organisierten, sich Wissen über die jüdische Geschichte und Tradition aneigneten, in selbst gebildeten Gruppen über zionistische Themen diskutierten oder Hebräisch lernten. Als erster zionistischer Frauenverein Deutschlands wurde im Jahr 1900 in Berlin die Jüdisch-Nationale Frauenvereinigung gegründet.
Das kulturzionistische Konzept der Gegenwartsarbeit zur Förderung der Selbstbehauptung von Jüdinnen und Juden im christlichen Kontext sei in der Forschung vernachlässigt worden. Die Autorin geht von der Hypothese aus, dass Zionistinnen in Deutschland Gegenwartsarbeit umsetzten, um mit kulturellen und sozialen Tätigkeiten zum Beispiel in der Erziehung und Haushaltsgestaltung, durch die Vermittlung der jüdischen Geschichte oder Sprache, die Organisation von Festen oder mit Vereinsarbeit den Zusammenhalt der jüdischen Minderheit zu stärken. Gegenwartsarbeit fand im Russischen Kaiserreich, in der Habsburgermonarchie oder im Osmanischen Reich Anklang und mobilisierte die zionistische Bewegung in den 1880er und frühen 1890er Jahren, besonders in Galizien, durch den Bezug auf eine nationalisierte und kulturell homogenisierte Einheit, um eine positive jüdische Identifikation zu vermitteln. Wegbereiter der Gegenwartsarbeit war Achad Haam, der sich 1885 in Odessa der Chibbat-Zion-Bewegung anschloss, sich später aber gegen die baldige Staatsgründung in Palästina als Lösung für die Probleme der Jüdinnen und Juden in der Diaspora aussprach. In Deutschland stellte Martin Buber im Artikel „Gegenwartsarbeit“ (Die Welt, 8.2.1901) deren Erziehungsprogramm vor, während er den Politischen Zionismus als formelhaft und wenig konkret abwertete. Die Aufgabe des Zionismus sei die Pflege der jüdischen Kultur, Literatur, Tradition oder Sprache im jeweils eigenen Land. Auf dem Fünften Zionistischen Kongress im Dezember 1901 forderten die Vertreter der Gegenwartsarbeit, die sich in der neu gegründeten Demokratisch-Zionistischen Fraktion versammelten, darunter Martin Buber, Chaïm Weizmann oder Ephraim Moses Lilien, die wenig später in Berlin den Jüdischen Verlag gründeten, ein Programm für hebräische Kultur und die Demokratisierung zionistischer Institutionen. Auch wenn die Deutungshoheit nicht beim Kulturzionismus, sondern beim wirtschaftlich orientierten, Politischen Zionismus verblieb, der Gegenwartsarbeit als kontraproduktiv und bedrohlich für die eigenen Ziele sah, hatte sich durch die Debatte nun auch in Deutschland eine Vorstellung von Gegenwartsarbeit etabliert, die Frauen mehr Handlungsmöglichkeiten bot als der Politische Zionismus. In den folgenden Jahren bauten Aktivistinnen zahlreiche zionistische Frauenvereine auf, unter anderem in Mainz, Leipzig, Lübeck, Strassburg, Hamburg oder München.
Auf der Grundlage akribischer Recherchen zeichnet Tine Bovermann etwa die Gründung des Jüdischen Frauenbundes anlässlich des Internationalen Frauenkongresses 1904 in Berlin nach. Langjährige Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes war Bertha Pappenheim, eine vehemente Kritikerin bürgerlicher Frauenbewegungen in Deutschland, denen sie die Missachtung jüdischer Perspektiven vorwarf. 1905 bezeichnet Elise Gutmann den Zionismus als eine demokratische Bewegung, in der Frauen und Männer gleiche Rechte besässen, und gerade Frauen, die, Gutmann zufolge, in der zionistischen Bewegung sämtliche gesellschaftliche Schichten verträten, hätten grosse Spaltungen wie jene durch die Uganda-Kontroverse verhindert. In ihrer ausführlich dargelegten Debattenanalyse bietet Bovermann einen informativen Einblick in die unterschiedlichen, strategisch eingesetzten Identifikationsprozesse und Abgrenzungsbestrebungen, mit denen der Aktionsradius für zionistische Frauen schrittweise erweitert werden konnte, bis sich im Jahr 1917 in der zionistischen Bewegung allmählich die Ansicht durchsetzte, dass kulturelle Aktivitäten in der Diaspora zum nationalisierten Gemeinschaftsgefühl beitrügen und daher wichtig waren.
Zur Autorin
Tine Bovermann wurde 1982 bei Dortmund geboren, studierte in Dresden und Halle Geschichte und Soziologie und promovierte zur Politik von Frauen in der zionistischen Bewegung. Die Autorin lebt in Potsdam.