Im September 2022 fand im Rahmen einer würdevollen Gedenkfeier die Einweihung der Gedenkstele für die vertriebenen Jüdinnen und Juden in St. Andrä (Bezirk Wolfsberg in Kärnten) statt. Dazu waren die Nachkommen der Opfer eigens aus England angereist.
Der im schlesischen Reichenbach (heute Dzierżoniów, Polen) geborene Lothar Auerbach flüchtete im Jahre 1936 zusammen mit seiner Frau Hildegard und seinen drei Kindern von Deutschland nach Österreich. Dort erwarb er in Schassbach bei St. Andrä die Hölzlhube 17 und nahm seine Tätigkeit als Landwirt auf. In den Märztagen 1938 wurde der Besitz der Familie vom ortsansässigen Kreisbauernführer in „kommissarische Verwaltung“ genommen. Der „Kaufvertrag“ zwischen dem neuen Besitzer und dem „Verwalter“ wurde am 12. Juni 1939 – ohne Wissen und auch ohne spätere Benachrichtigung der Auerbachs – abgeschlossen.
Lothar Auerbach wurde in der Nacht vom 9. auf den
10. November 1938 von der Gestapo zusammen mit Gerhard Gadiel, seinem Praktikant auf dem Bauernhof, verhaftet und ins Gestapo-Gefängnis nach Klagenfurt gebracht. Von dort schrieb er eine Karte an seine Familie:
„Liebe Hilda und geliebte Kinder! Hoffentlich seid ihr munter und gesund. Ich bin mit Gerhard zusammen. Wende Dich bitte durch den Bauernführer an die Gestapo Klagenfurt, bemerke auch deinen gelähmten Zustand, am besten durch ein ärztliches Attest und bitte um meine Enthaftung. Von meinem neuen Standort schreibe ich, sobald ich Erlaubnis dazu habe. Sende mir von Dir und den Süssen die Photographie. Kopf hoch, mach dir keine Sorge um mich. Ich kann doch arbeiten und Ihr müsst mir gesund bleiben. Herzliche Grüsse und Küsse. Dein Lothar.“
Die Bitte des Schreibers, man möge ihm ein Foto seiner Familie zukommen lassen, lässt darauf schliessen, dass Lothar Auerbach sich bereits auf eine längere Inhaftierung eingestellt hatte. Und tatsächlich wurden er und sein Hofpraktikant von Klagenfurt weiter nach Dachau deportiert. Eine Woche nach der Verschleppung ihres Mannes erhielt Hildegard Auerbach ein drakonisches Schreiben vom Gendarmerieposten St. Andrä:
„Im Auftrage der Staatspolizei in Klagenfurt ist Ihnen zu eröffnen, dass Sie mit Ihrer Familie, soweit sie Juden sind, bis 15. Dezember 1938 entweder auszuwandern oder nach Wien zu übersiedeln haben. Falls Sie nach Wien übersiedeln, haben Sie sich nach Ihrer Ankunft beim zuständigen Polizeiamt zu melden. gez. Der Postenkommandant.“
Die Gedenkstele im Generationenpark in St. Andrä.
Hildegard Auerbach entschloss sich, über den Verkauf von Möbeln die Reise nach Berlin zu finanzieren, wo sie und ihre Kinder Lothar Auerbach nach seiner Enthaftung wieder trafen. Später gelang der Familie die Ausreise nach England. Die Spur Gerhard Gadiels hingegen verliert sich in einem Ghetto im Osten.
In seinem Essay über die „Latenz der Dinge“ beschäftigt sich Harald Welzer mit den psychosozialen Folgen für Opfer von Arisierungen. Mit dem Verlust von materiellem Eigentum gingen der wirtschaftliche Ausschaltungsprozess, Beschränkungen von Handlungschancen, Verletzungen des Selbstwertes sowie die Bedrohung der Identität einher. Mit den materiellen Gütern ging gleichzeitig die „Identitätsausrüstung“ verloren. Ein „Ensemble von Dingen“ wie Kleidungsstücke, Möbel und so weiter stellen immer auch ein „biographisches Arrangement“ dar, welches das Selbstbild und die Identität fundiert und stützt.
Während bei den Täterinnen und Tätern der soziale Handlungsspielraum wuchs, schrumpfte dieser bei den Opfern sukzessive:
„Die zunehmende Verarmung und Marginalisierung der Opfer und die wachsende Ignoranz oder offene Feindseligkeit der Zuschauer und Täter sind zwei Seiten desselben Vorgangs, in dessen Verlauf sich auch die normativen Standards und moralischen Urteile auf Seiten der Zuschauer und Täter veränderten.“
Da sich die Ausgegrenzten aber als unhinterfragbaren Teil der Gemeinschaft und Kultur, aus der sie nunmehr ausgegrenzt waren, sahen, schmerzte sie der Ausschluss umso mehr. Van Laak beschreibt diesen Umstand der völligen Ohnmacht:
„Nach dem Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Dienst und nahezu sämtlichen Interessensverbänden bot der Bereich des freien Marktes häufig die letzte Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Umso schwerer fiel es, auch dies aufzugeben. In den wenigen Selbstzeugnissen über Verkaufsentscheidungen wird immer wieder die starke emotionale Bindung an das Geschäft betont.“
Dabei handelte es sich um mehr als nur den Verlust des Besitzes: damit waren jegliche Handlungsspielräume eingeschränkt. Die einzig realen Optionen blieben die Auswanderung oder das Risiko, sich ständigen (Todes-)Gefahren auszusetzen. Ein Beispiel für den sich erweiternden Handlungsspielraum von Ariseurinnen und Ariseuren, der sich schrittweise zu einem uneingeschränkten Machtraum entwickelte, beschreibt Welzer am Beispiel jener „Abrissmieter“, die ihre Berliner Wohnungen zugunsten von „Reichsbauten“ des Architekten Albert Speer aufgeben mussten und nun ihrerseits selbst eine folgenschwere Entscheidung im Zusammenhang mit ihrer zukünftigen Wohnung treffen sollten. Für sie waren Wohnungen von Jüdinnen und Juden, die nach ihrer Delogierung in so genannten Judenhäusern konzentriert und später deportiert wurden, vorgesehen. Das moralisch Verwerfliche an diesen „Wohnungsübertragungen“ war, dass die Besichtigungen der Wohnungen in Anwesenheit der jüdischen Vormieter stattfanden. Damit wurde den neuen Mietern, die nun de facto Ariseure waren, eine abnorme Machtposition zugestanden, während die Opfer zutiefst beschämt wurden. Jede Art von Distanz war ausgehebelt; Machthabende und Machtlose standen einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Lothar und Hildegard Auerbachs Tochter Ruth Schwiening aus England.
Anhand dieses Beispiels soll gezeigt werden, welche weitgreifenden psychosozialen Verletzungen mit der Vertreibung (und der Beraubung) einhergingen. Fremdbedingtes Untergraben der Integrität sowie Inkriminierung macht die Opfer unsicher, was ihre eigene Unversehrtheit betrifft. Diese Art der irrationalen „Feindhörigkeit“ ist die frühste psychische Folge sozialer Repression. Sie kann als Versuch der Opfer verstanden werden, sich mit den Tätern „auszusöhnen“.
Dies scheint zu erklären, warum sich viele mit ihrer ausweglosen Situation abgefunden hatten. Die Duldung der „sozialen Minderwertigkeit“ wurde als ein Arrangement auf Zeit wahrgenommen, welches, nachdem „Sühne geleistet war“, wieder in den „Normalzustand“ wechseln würde. Diese Fehleinschätzung ist besonders bei jenen assimilierten Jüdinnen und Juden feststellbar, die sich als Teil der deutschen Gesellschaft und Kultur verstanden. Der Kern dieser Einschätzung ist zudem auch in den realpolitischen Massnahmen der Nationalsozialisten zu suchen, welche bei mehreren Gelegenheiten „Sühneabgaben“ von ihren Opfern forderten.
Alle Abbildungen A. Verdnik, mit freundlicher Genehmigung.