Ausgabe

Lemberg unter dem Hakenkreuz aus polnischer Sicht

Arno Tausch

Inhalt

Tadeusz Zaderecki: Lwów under the Swastika. The Destruction of the Jewish Community Through the Eyes of a Polish Writer.

Jerusalem: Yad Vashem Publications 2019.

492 Seiten, Euro 50,00.–

ISBN 978-965-308-579-4

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Das vorliegende, von Yad Vashem hervorragend gestaltete, auch mit einem Index der Personen und der Orte versehene und mit erschütternden Fotos reichlich gestaltete Buch gibt einen wichtigen Einblick in die furchtbaren Zeiten in Lemberg (Lwow, Lwiw) während der nazideutschen Besatzung ab 1941. Das Buch ist nicht nur eine unumgängliche Quelle für verschiedene, mit der Shoah in Ostmitteleuropa befasste wissenschaftliche Disziplinen, sondern ist auch eine „Pflichtlektüre“ für alle an der christlich-jüdischen Zusammenarbeit Interessierten. Der in der Ökumene engagierte Theologe und katholische Priester Ronald Modras (1937–2018) machte den Autor der Studie, den polnischen katholischen Orientalisten und Journalisten Tadeusz Zaderecki in vielen wissenschaftlichen Disziplinen bekannt, als er in seinem weit verbreiteten Standardwerk zur katholischen Kirche und dem Antisemitismus in Polen1, darauf hinwies, dass Zaderecki einer der wenigen katholischen Autoren vor der Shoah war, der die ethischen und religiösen Werte des Talmud gegen seine antisemitischen Verleumder verteidigte. Zadereckis damaliges Buch wurde 1937 auch ins Deutsche übersetzt.2 

Wer war dieser Tadeusz Zadarecki, Journalist, Gelehrter und ein Gerechter in der Zeit der Shoah? Wenig ist über sein Leben bekannt. Er wurde in Lemberg in einer bürgerlichen Familie geboren. Seine Mutter war eine sehr gläubige Katholikin, die ihren Mann früh verlor und ihr Kind allein grosszog. Wie viele seiner Altersgenossen inskribierte er an der Lemberger Universität, schloss sein Studium an der Fakultät für Polonistik ab und begann eine literarische Laufbahn. Er interessierte sich für die Frage der Juden in Polen und wurde ihr eloquenter Verteidiger während der Zeit des zunehmenden Antisemitismus. Seine Freundschaft mit Rabbiner David Kahane (1903–1998) begann im Jahr 1936. Kahane, später Militärrabbiner in Polen (1945–1949), und dann Oberrabbiner der israelischen Luftwaffe, schrieb auch das Vorwort zum vorliegenden Buch. Die 22 Kapitel zeigen verschiedene Phasen der Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Lemberg. Das Buch gibt auch viele kritische Einblicke zur Beurteilung von den zwei der drei Hauptfiguren des heutigen ukrainischen geschichtlichen Selbstverständnisses (Bohdan Chmielnicki,3 Symon Petliura und Stepan Bandera).4 

 

Zaderecki schreibt in seiner Chronik des Grauens: 

„Als ich mich an das Projekt dieses Buches machte, beschloss ich, mich auf den engsten Teil der Geschichte dieser Besatzung zu beschränken, nämlich auf die Vernichtung der Lemberger Juden, zumal ich schon vor dem Krieg psychologisch tief in dieses Thema verstrickt war und ich mich mehr als 12 Jahre lang mit jüdischen Studien beschäftigt hatte. Viele Bücher und Texte habe ich dem Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit für meine jüdischen Mitbürger gewidmet. Ich habe ihnen in so mancher schweren Stunde beigestanden und mehr als einmal die polnische Öffentlichkeit vor dem Antisemitismus in Polen gewarnt. Meine Vorhersagen haben sich bewahrheitet.“

 

Die unbeschreiblichen Grausamkeiten begannen schon mit dem Abzug der Roten Armee im Juli 1941, als der Mob nun mit blauen und gelben Bändern „geschmückt“ seine Jagd auf alles begann, was jüdisch in der Stadt war. Eine Gruppe von Anhängern von Stepan Bandera (1909–1959), war bei diesen sofort nach dem Einmarsch der Wehrmacht einsetzenden Pogromen an vorderster Front, unter anderem mit der ukrainischen SS-Einheit „Nachtigall“. Zaderecki erspart seinen Lesern nicht die detaillierten Schilderungen, wie zu „triumphalen nationalistischen Liedern“ in den Strassen Juden gewaltsam aus ihren Wohnungen gezerrt wurden, um mit Lappen, Eimern und Zahnbürsten und unter den Beschimpfungen, Schlägen und Tritten des versammelten Mobs auf den Marktplatz getrieben wurden, um den gesamten Lemberger Marktplatz und den Krakauer Platz zu schrubben. Dies war also der erste Tag der deutschen Herrschaft in Lemberg, der später von den Nazis offiziell als Tag der nationalsozialistischen Revolution des ukrainischen Volkes bezeichnet wurde. Banderas Denkmal, errichtet auch mit Mitteln des deutschen Wirtschaftsministeriums, „schmückt“ heute Lemberg.5 Neben den Morden an den Juden waren Banderas Einheiten auch für den Massenmord an rund 100.000 Polen verantwortlich. Auf diese Weise unterzeichneten, so Zaderecki, die ukrainischen Nationalisten mit jüdischem Blut ihr Bündnis mit Deutschland auf den Pflastersteinen. Im Juli 1941 feierte der Mob unter tatkräftiger Mithilfe der NS-Besatzer auch ein Pogrom zum „Andenken“ an Symon Petliura (1879–1926), der nach dem Ersten Weltkrieg für zahlreiche Pogrome an Juden verantwortlich war.6 Ein bedrückendes und starkes Buch, das von Yad Vashem, unbeirrt durch ideologisierte Debatten, im Namen der historischen Wahrheit über die Stadt Lemberg und über die Ukraine herausgebracht wurde.

 

Anmerkungen

 

1 Modras, Ronald E. The Catholic Church and Antisemitism: Poland, 1933-1939, Harwood Academic, 1994

2 Zaderecki, Tadeusz, und Minna Safier. Der Talmud Im Feuer Der Jahrhunderte. Victoria-Druckerei, Wien, 1937.

3 Bogdan Chmielnicki (vgl. https://www.jewishvirtuallibrary.org/chmielnicki-khmelnitski-bogdan-x00b0), nach dem heute eine Stadt und unzählige Plätze und Strassen in der Ukraine benannt sind, war der Anführer des Kosaken- und Bauernaufstandes gegen die polnische Herrschaft in der Ukraine im Jahr 1648, welcher zur Zerstörung hunderter jüdischer Gemeinden führte. In jüdischen Annalen wird Chmielnicki „Chmiel der Böse“ genannt.

4 vgl. z.B. heutige Denkmäler und Strassennamen sowie https://visitukraine.today/de/blog/1895/day-of-heroes-of-ukraine-the-history-of-the-holiday-and-whose-names-we-cant-forget).

5 vgl. https://www.telepolis.de/features/Lviv-ehrt-Nazikollaborateur-und-Kriegsverbrecher-4319933.html

6 vgl. Newsweek 2018 https://www.newsweek.com/ukraine-nazi-collaborator-birthday-holiday-anti-semitic-1272911