Ausgabe

Wie Phönix aus der Asche Die Etz Hayyim Synagoge in Chania, Kreta

Robert Schild

Die Ruinen von Knossos, nahe zu Heraklion, mit Zeugnissen der minoischen Zivilisation aus dem vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung sind zweifellos die wichtigsten historischen Funde auf Kreta. Aber ebenso faszinierend ist sicherlich die im Westen der Insel liegende Stadt Chania mit ihrem malerischen Hafen, den alten türkischen Bädern und engen Gassen, wo man bei Schritt und Tritt auf Zeugnisse von 400 Jahren venezianischer und 250 Jahren osmanischer Herrschaft stossen kann. Am stärksten beeindruckend ist jedoch die mitten in der Altstadt gelegene kleine Synagoge, und in diesem Zusammenhang die traurige Geschichte, die das jüdische Leben auf der Insel beenden sollte.

Inhalt

Die jüdische Präsenz in Kreta geht auf das 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. zurück, als Juden aus Ägypten (vielleicht im Rahmen ägyptischer Militärkampagnen) und aus Palästina während des Makkabäer-Aufstands dort eintrafen. Nach vielen kargen, aber auch einigen guten Jahrhunderten unter hellenischer, römischer, byzantischer und venezianischer, dann aber osmanischer Herrschaft fand sie am 9. Juni 1944 ein abruptes Ende. Das Schiff Tanais, auf dem die gesamte verbliebene jüdische Bevölkerung der Insel von den Nazi-Schergen über Piräus nach Auschwitz verfrachtet werden sollte, wurde von einem britischen U-Boot unweit vor Heraklion torpediert und versenkt. 

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Die Bima der Etz Hayyim Synagoge in Chania. Foto: Mirjam Schild, mit freundlicher Genehmigung.

Augenzeugenberichten zufolge sollen die unmittelbaren Nachbarn der Juden auf deren Abtransport nicht reagiert, sondern vielmehr nach deren Verhaftung mit der Plünderung ihrer Häuser und Geschäfte begonnen haben. Das bescheidene Bethaus, das während der venezianischen Besatzung als christliche Kirche gedient hatte, während der osmanischen Zeit jedoch (typischer- und interessanterweise!) für die religiösen Bedürfnisse der jüdischen Bevölkerung zur Synagoge Etz Hayyim umgewandelt wurde, war zweifellos auch von diesen Aktionen betroffen – und so stand das Gebäude danach ein halbes Jahrhundert lang mitten in der Altstadt als Ruine, in der Streuner Zuflucht fanden, Ziegen herumliefen und Hühner gackerten.

 

Dann aber begann diese Stätte das besondere Interesse des Gründers und Kurators des Athener Jüdischen Museums, Nicholas Stavroulakis, auf sich zu ziehen. Dieser vielseitige Ethnologe, Forscher und Künstler, mit einer Sefardin aus Istanbul als Mutter und einem christlichen Griechen zum Vater, war sowohl Historiker des griechischen Judentums als auch Maler und Grafiker. Seine umfassenden Forschungsarbeiten, so etwa Die Juden Griechenlands, Juden und Derwische von Thessaloniki sowie sein viel beachtetes Kochbuch der Juden Griechenlands wurden nach und nach auch auf Englisch veröffentlicht. Eine weitere Arbeit, diesmal als Maler und Illustrator, ist sein beachtenswertes Dossier Sefardisch- und romaniotisch-jüdische Trachten in Griechenland und der Türkei, bestehend aus 16 Aquarellzeichnungen auf Basis von Lithographien aus dem Jüdischen Museum in Athen. 

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Eingang zur Mikwe. Foto: M. Schild, mit freundlicher Genehmigung.

Während all diese sekundären Arbeiten im Gange waren, hatte Stavroulakis immer ein primäres, konkretes, gigantisches Projekt im Sinne, nämlich die Wiedererrichtung der seit 1944 zerstörten Etz Hayyim Synagoge. Stavroulakis, der nach dem Zweiten Weltkrieg erst 1957 nach Chania gekommen war, gelang 1995 ein wichtiger Schritt nach vorn zur Verwirklichung seines Traums: Anlässlich eines Vortrags über diese untergegangene Synagoge, den er bei einer Konferenz vor dem Weltkulturerbe-Fonds in New York hielt, wurde das Gebäude in die Liste der Hundert am meisten gefährdeten Stätten der Welt aufgenommen. Nach diesem Anstoss fand Stavroulakis verschiedene internationale Sponsoren, insbesondere die Familien Rothschild und Estée Lauder, die für die benötigten 300.000 US-Dollar der Restaurierungsarbeiten aufzukommen bereit waren. 

 

Bis hin zum eingestürzten Dach der Synagoge wurde das gesamte Gebäude neu errichtet, die Grabsteine von vier Zaddiks im Hinterhof wurden ans Tageslicht befördert, die als Müllhaufen verbliebene Mikwe wurde freigelegt und das Haupttor des Vorhofs in mühsamer Kleinarbeit wiederaufgebaut. Als Ergebnis konnte dieses „kleine Juwel“ jüdischen Lebens und mosaischer Kultur schliesslich am 10. Oktober 1999 in Anwesenheit von mehr als dreihundert Gästen verschiedener Institutionen und Organisationen weltweit zur Nutzung freigegeben werden.

 

„Die jüdische Bevölkerung auf der gesamten Insel Kreta, geschweige denn in Chania, beträgt nicht viel mehr als eine Handvoll!” sagte Nikos Stavroulakis dem Verfasser bei seinem ersten Besuch in Kreta 2002. Für ihren Kurator hat diese Synagoge vornehmlich drei Funktionen: Erstens soll sie als Zeugnis der jüdischen Geschichte auf Kreta wirken, zweitens als Erinnerung an die 265 unschuldigen Opfer der Nazis an Bord der Thanais stehen und drittens allen Menschen, die zu G‘tt beten wollen, dienen. Ab und zu werden auch Hochzeiten hier abgehalten – aber vor allem haben bisher tausende von Besuchern aus allen Teilen der Welt und Gläubige aller Religionen die Synagoge besucht, eine grosse Anzahl von ihnen hat auf ihre eigene Art dort gebetet oder meditiert, und ausnahmslos alle haben zum Erhalt dieses heiligen Ortes mit kleineren oder grösseren Spenden beigetragen.

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Konstantin Fischer erzählt über die Geschichte der Synagoge. Foto: R. Schild, mit freundlicher Genehmigung.

Im Juni 2022 trafen wir in Chania Konstantin Fischer, einen deutschen Juden aus Bremen, der seit fast dreissig Jahren auf Kreta lebt und nunmehr die Nachfolge des 2017 im Alter von fünfundachtzig Jahren verstorbenen Nikos Stavroulakis angetreten hat. Im Laufe unseres ausführlichen Gesprächs über die Synagoge äusserte er ähnliche Gefühle – aber jetzt konnten wir einen grossen Unterschied im Vergleich zur Lage vor 21 Jahren feststellen: Es gibt heute eine zunehmend wachsende jüdische Gemeinde in Chania, die jeden Freitagabend Kabbalat Schabbat hält und bald auch aus der Thora wird vorlesen können.

 

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Die freigelegten Grabsteine. Foto: M. Schild, mit freundlicher Genehmigung.

Nachlese

 

Zu näheren Angaben über Etz Hayyim vgl. https://www.etz-hayyim-hania.org/