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Safe Haven Ein aussergewöhnliches Flüchtlingsdrama

Peter R. Koppitz

Im Sommer 1943 landeten amerikanische und britische Truppen im Süden Italiens und rückten danach rasch bis in die Mitte des Landes vor. Mussolini wurde gestürzt und die neue Regierung handelte einen Waffenstillstand aus, der am 8. September 1943 in Kraft trat. 

Inhalt

Damit wurden auch alle Konzentrationslager in Süditalien aufgelöst und rund 5.000 jüdische Gefangene gewannen die Freiheit. Viele von ihnen hatten noch kurz vor oder zu Beginn des Krieges in Italien Zuflucht gesucht und waren nach dem Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 überwiegend im Süden des Landes interniert worden. Dort hatten sie zwar in primitiven Verhältnissen leben müssen, waren aber – anders als in deutschen Konzentrationslagern – als Menschen behandelt worden. 

 

Der Krieg war für die Flüchtlinge damit noch nicht zu Ende. Die Front war südlich von Rom am Monte Cassino für mehrere Monate steckengeblieben; die Versorgung der alliierten Truppen hatte daher Vorrang. Der befreite Teil Italiens litt unter Zerstörungen und Nahrungsmangel. Ein Zuhause gab es für die meisten Flüchtlinge nicht mehr und die Ausreise in ein anderes Land – die meisten wollten nach Amerika oder nach Palästina – wurde durch das Kriegsgeschehen verhindert. So blieb ihnen oft nur die Rückkehr in die Lager, wo amerikanische Hilfsorganisationen Unterstützung boten. 

 

Die Kriegshandlungen wurden von zahlreichen Berichterstattern begleitet, die auch auf die Erlebnisse der Flüchtlinge aufmerksam wurden und zunehmend darüber berichteten. So gelangten erstmals Berichte aus erster Hand über die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden an die amerikanische Öffentlichkeit. Jetzt schilderten Menschen aus verschiedenen Teilen des Nazi-Reichs ihre Verfolgung, die sie am eigenen Leib erlebt hatten. Greuel, die viele in den U.S.A. bislang als feindliche Gerüchte und Propaganda abgetan hatten, wurden nun zur Gewissheit. Die Fragen häuften sich, weshalb die US-Regierung nicht mehr Verfolgte aufgenommen und sogar die erlaubten Quoten nicht voll ausgeschöpft hatte.

 

Im Frühjahr 1944 kam es in der Regierung Roosevelt zu Diskussionen darüber, wie man das Flüchtlingsproblem in Süditalien lösen könnte. Die rigide Festlegung des Kongresses auf das bestehende Quotensystem (jährliche fixe Einwanderungszahlen pro Herkunftsland) gab der Regierung keinerlei Spielraum für eine Aufnahme in die U.S.A. Daraufhin entschloss sich Roosevelt zu einem publizistisch wirkungsvollen Handstreich: Er „lud” 1.000 Flüchtlinge als „Gäste seiner Regierung” in die U.S.A. ein. Sie mussten rasch ausgewählt werden, sollten nicht nur Juden sein; Familien und einige Berufsgruppen wurden bevorzugt, der Spionage Verdächtige aussortiert. Anfang Juli 1944 folgte eine medizinische Untersuchung mit Impfungen und bereits Ende Juli legte der Truppentransporter Henry Gibbons, der gleichzeitig 2.000 verwundete Soldaten nach New York brachte, in Neapel ab. 

 

Hatten die Flüchtlinge an Freiheit im Land ihrer Träume gedacht, so wurden sie schwer enttäuscht. Als „Gäste” durften sie zwar an Land, aber nur unter Bewachung, denn sie waren keine Einwanderer. Als „Gäste” hatten sie sich auch alle schriftlich verpflichten müssen, nach Ende des Krieges in ihre Heimatländer zurückzukehren. Aber wer hätte in ihrer Situation nicht alles unterschrieben, nur um in ein sicheres Land zu gelangen?

In Oswego, am Ontario See, hatte man ein altes Armeelager vorbereitet, in dem alle – es waren jetzt offiziell 982 – untergebracht wurden. Die Holzbaracken waren sauber und ordentlich; Familien erhielten einen kleinen eigenen Bereich, Einzelpersonen wohnten in Schlafsälen. Die Lagerleitung wurde vom War Refugee Board gestellt, zahlreiche Aufgaben im Lager wurden unter den Flüchtlingen verteilt – daher die vorhergehende Auswahl verschiedener Berufsgruppen. Nachdem sich die anfängliche Enttäuschung gelegt hatte, stellten die meisten erneut Internierten fest, dass sie es doch gut getroffen hatten. Sie mussten sich nicht um Essen und Kleidung sorgen, wurden ärztlich und psychologisch versorgt und erhielten zahlreiche materielle Hilfsleistungen von aussen. 

 

Bald stellte sich heraus, dass ihre Beschränkung auf ein exterritoriales Lager – nominell lebten sie nicht in den U.S.A. – realitätsfremd und nicht aufrecht zu erhalten war: Kinder kamen zur Welt und mussten registriert werden, Jugendliche sollten und wollten endlich wieder in die Schule gehen, Schwerkranke mussten in einem Krankenhaus behandelt werden. Und so spielte sich alles ein wenig anders als geplant ein: tagsüber war der Zaun durchlässig, nur die Nächte verbrachten alle im Lager.

 

Hilfsorganisationen halfen, wo der Lagerverwaltung die Mittel fehlten: Musiker erhielten Musikinstrumente, Kinder Spielsachen, Verarmte Kleidung, Bücher ... Die von äusserem Druck Befreiten fassten neuen Mut und beteiligten sich zunehmend am wachsendem Gemeinschaftsleben: Es bildeten sich Musikgruppen, Theatergruppen, Kindergärten, Grundschulen, Küchenteams; eine Redaktion verfasste eine regelmässig erscheinende Lagerzeitung, das Ontario Chronicle und alle bemühten sich, so rasch wie möglich Englisch zu lernen. Für viele war es eine Zeit der Heilung. Die anfangs zurückhaltende Bevölkerung Oswegos, die die Flüchtlinge zunehmend akzeptierte und dann auch unterstützte, trug einen wichtigen Teil dazu bei und profitierte selbst davon, denn die Flüchtlinge hatten auch der etwas entlegenen Stadt am Nordende des Staates New York eine neue Aufgabe gegeben.

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Ankunft im Lager in Oswego. Foto: Alfred Eisenstaedt.

Hatten alle in den Monaten, in denen der Krieg andauerte, noch eingesehen, dass die Internierung aus Sorge vor Spionen angebracht sein könnte, verloren alle, auch die Lagerleitung und die Einwohner der Stadt, jedes Verständnis für das Andauern der Internierung nach Ende des Krieges. Weshalb sollten diese wenigen Menschen – rund 820 von ihnen wollten in den U.S.A. bleiben – nicht das Lager verlassen und einwandern dürfen? Die Regierung bot – formal korrekt – nur die Rückkehr in die Heimatländer der Flüchtlinge an. Aber sollten sie wirklich dorthin zurückkehren, wo sie verfolgt und vertrieben worden waren? Gab es ihre Heimat zu Ende des Krieges überhaupt noch, waren nicht alle jüdischen Gemeinden vernichtet worden?

 

Im Sommer 1945 gewannen in der Regierung die Stimmen an Gewicht, die begriffen, dass es unsinnig wäre, Flüchtlinge in ein Europa zurückzuschicken, in dem bereits Millionen von Flüchtlingen eine neue Bleibe suchten und die dortigen Behörden mit dieser Aufgabe völlig überfordert waren. Aber im Kongress, der allein für die Einwanderungszahlen zuständig ist, fand sich keine Mehrheit für eine Ausnahmeregelung im Fall dieser „Gäste”. Ein Unterausschuss des ­Senats, der sich nach einem Treffen mit den Flüchtlingen für eine Ausnahme ausgesprochen hatte, konnte den vollen ­Senat nicht zu einer Änderung seiner Haltung bewegen; zu sehr hatte Franklin D. Roosevelt offensichtlich den Gesetzgeber mit seinem ungenehmigten Husarenstück verärgert. 

Im Herbst 1945 stieg die Verzweiflung im Lager. Einige hatten Verwandte im Land, die auf sie warteten, anderen war bereits eine Anstellung zugesichert – und alle fürchteten das Damoklesschwert der Rückkehr in das zerstörte Europa. Ihr Unverständnis und ihre Angst verarbeiteten sie schliesslich in einer Operette mit dem Titel The Golden Cage. Den Text hatte die Bildhauerin Miriam Sommerberg verfasst und der Komponist Charles Abeles hatte ihn vertont. Der Goldene Käfig wurde an Silvester 1945 uraufgeführt. 

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Safe Haven Holocaust Refugee Shelter Museum.

Kurz vor der Aufführung erhielt diese Operette einen neuen, glücklichen Schluss. Zu Weihnachten hatte Präsident Harry S. Truman endlich eine salomonische Lösung gefunden: Alle Flüchtlinge wurden im Januar 1946 mit dem Bus nach Canada gebracht, unterschrieben dort ihre Anträge auf Einwanderung in die U.S.A., fuhren mit demselben Bus wieder zurück in die U.S.A. und wurden jetzt als reguläre Einwanderer aufgenommen. Und um alle Regularien des Kongresses einzuhalten, wurde ihre Anzahl von den Quoten ihrer Herkunftsländer abgezogen. Von da an waren sie frei – und wieder für sich selbst verantwortlich.

 

In Oswego befindet sich auf dem Gelände des Fort Ontario eine kleine Gedenkstätte, die an diese einzigartige – oder sollte man sagen: eigenartige – Rettung von neunhundertzweiundachtzig Verfolgten erinnert.

 

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Esshalle im Lager Oswego. Foto: Alfred Eisenstaedt.

Literatur

 

Voigt, Klaus (1989): Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien, 1933–1945. 2 Bände. Stuttgart: Klett-Cotta.

Ruth Gruber, Haven, The Dramatic Story of 1,000 World War II Refugees and How They Came to America, New York, 2000.

„Don’t Fence Me In” – Memories of the Fort Ontario Refugees and Their Friends, Safe Haven Inc. Museum and Education Center, July 2004.

Sharon R. Lowenstein, Token Refuge – The Story of the Jewish Refugee Shelter at Oswego 1944–1946, Bloomington, 1986.

 

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Museum „Safe Haven“ (2009). Foto: P. Koppitz, mit freundlicher Genehmigung.

 

Abbildungen: Safe Haven Museum and Education Center, mit freundlicher Genehmigung P. Koppitz.

 

Teil I dieses Beitrags, über den Komponisten Charles Abeles, ist in DAVID Heft 137, Sommer 2023 erschienen.