Ausgabe

Der Papst, der schwieg Pius XII. und der Vatikan 1939–1945

Arno Tausch

Das Buch des amerikanischen Sozialwissenschaftlers David I. Kertzer ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessieren. 

Inhalt

David I. Kertzer entwickelt eine historisch-soziologische Methode und zeichnet ein Gesamtbild der (Nicht-)Handlungen und Meinungen des Vatikans in der kritischen Zeit von 1939–1945. Darin hat er auch die diplomatischen Berichte der Nuntiaturen sowie der verschiedenen Botschaften der Staaten der Welt beim Vatikan ausgewertet. Als der damalige italienische Vatikan-Botschafter Dino Alfieri 1940 beim Papst in Audienz war, sagte Pius XII. zu ihm:

„Ich habe mich bemüht, niemanden zu verärgern, keinerlei konkrete Punkte angesprochen, ja, ich habe mir alle Mühe gegeben, so wenig zu sagen wie nur irgend möglich.“(Seite 165)

Das deprimierende Ergebnis des Buches ist in diesem Satz wohl prägnant zusammengefasst. Die Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica gab im April 1939 einen schrecklichen Einblick in die damals im Vatikan vorherrschenden Ansichten: angesichts des Osterfestes sei es wichtig, sich daran zu erinnern, dass „die Juden, die ihren Hass auf Jesus verbergen“, bei allen Verfolgungen gegen die Kirche wieder aufträten.(Seite 70)

Der Vatikan war über die seit September 1939 in Polen entfesselten nazideutschen Gräueltaten bestens informiert. Am Tag nach dem Überfall auf Polen sagte der Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione auf die Frage des französischen Botschafters, ob der Papst Protest erheben werde: „Nein, das ist nicht der Stil des Papstes.“ Papst Pius XII. und die ihm unterstellte Bürokratie taten alles, um kritische Berichte über das NS-Regime zu unterdrücken, die vor dem September 1939 zuweilen noch in der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ erschienen waren.(Seite 112 bis Seite 113)

Sehr verdienstvoll sind auch die ab Seite 120 dokumentierten neuen Enthüllungen über die Versuche des Papstes, über Prinz Philipp von Hessen (er gehörte in den Dreissiger Jahren und bis etwa 1941 zum engsten Kreis der nationalsozialistischen Machtelite und war ein Schwiegersohn des italienischen Königs) noch nach der Eroberung Polens eine Verständigung mit Hitler zu erreichen. Auf Seite 125 erfährt die Leserschaft auch, dass Pius XII. Hitler sogar seine Glückwünsche übermitteln liess, als dieser Elsners Attentat im November 1939 unverletzt entkommen war.

Je weiter sich die Gräueltaten des Naziregimes über ganz Europa ausbreiteten, und je mehr Berichte und Briefe von Gläubigen darüber den Papst erreichten, desto beharrlicher schwieg der Papst. Wenige Tage nach Beginn des deutschen Angriffs auf Frankreich bat Kardinal August Hlond, der Primas von Polen, Pius XII. um die Erlaubnis, über Radio Vatikan wenigstens eine Botschaft an die polnische Bevölkerung ausstrahlen zu dürfen. (Seite 169ff.) Die Antwort von Pius XII. lautete: seine Heiligkeit sei überzeugt, dies sei ein ungünstiger Zeitpunkt, um eine solche Rede zu halten.

Zu den Dokumenten, gehört auch eine Gesprächsnotiz des damals amtierenden italienischen Botschafters Bernardo Attolico beim Heiligen Stuhl, der Aussenminister Ciano berichtete, Papst Pius XII. habe von dem günstigen Eindruck gesprochen, den das Verhalten der Deutschen in diesem Krieg auf ihn gemacht habe.(Seite 195)

Mit klarer Übersicht und Detailkenntnis erläutert der Autor ab Seite 225 die verheerenden Auswirkungen der italienischen faschistischen Rassen-Kampagne ab 1938. Diesbezügliche Proteste der katholischen Kirche betrafen allenfalls nur jene Verfolgungsopfer, die sich taufen liessen. Im faschistischen Italien gab es nicht weniger als zweihundert Lager, in denen die Juden des Landes inhaftiert waren. 

Für Proteste gegen die nationalsozialistische Verfolgungspolitik hatte der Pontifex in all diesen Jahren offensichtlich keine Neigung. Als er aber Ende Mai 1941 vor Mitgliedern der Mädchenorganisation der Katholischen Aktion sprach, warnte er diese vor dem gefährlichen Übel, das durch die Gefahren der Unsittlichkeit im Bereich der Damenmode drohe.(Seite 243)

Ab Seite 270 widmet sich Kertzer jenen Berichten, die den Heiligen Stuhl über Hitlers Vernichtungsfeldzug gegen die europäischen Juden erreichten. Sie stammten nicht nur aus jüdischen Quellen und Presseberichten, sondern auch von Männern der Kirche: Am 9. Januar 1942 kehrte beispielsweise Pater Pirro Scavizzi, ein römischer Militärgeistlicher, von einer langen Reise an die Ostfront zurück und gab dem Papst erstmals einen seiner erschütternden Berichte über die dortigen Geschehnisse. 

Kertzers Verdienst ist es auch, die bizarre Welt der damaligen Entscheidungsträger im Vatikan von einer anderen Seite zu skizzieren. Ende 1941 hatte Pius XII. einer Darstellung seiner Tätigkeit in einem Spielfilm zugestimmt, der unter dem Titel Pastor Angelicus bis heute auf YouTube zu sehen ist. Luis Trenker, der dem Nationalsozialismus eng verbundene Südtiroler Filmemacher, zeichnet dafür verantwortlich (https://www.youtube.com/watch?v=6FVrS7RmIbE). 

Der Rezensent möchte die Besprechung dieses grossartigen Buches mit einem Hinweis auf jenes Telegramm abschliessen, das die beiden Oberrabbiner in Jerusalem 1944 an Kardinal Maglione schickten: 

„Angesichts [der] äussersten Wichtigkeit flehen wir [und] b­itten seine Heiligkeit rasch um Audienz.“(Seite 506).

Pius XII. hielt es für richtig, nicht zu antworten. 

 

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Nachlese

 

Kertzer, David I.: Der Papst, der schwieg. Die geheime Geschichte von Pius XII., Mussolini und Hitler. 

wbg Theiss Darmstadt 2023. 

704 Seiten, Euro 39,00.-

ISBN-13: 978-3-8062-4502-8

ISBN-10: 3806245029