404: Not Found Ein Wiener Wahrzeichen als Zielpunkt der Antisemiten Der Fall Gerngross David - Jüdische Kulturzeitschrift

Ausgabe

Ein Wiener Wahrzeichen als Zielpunkt der Antisemiten Der Fall Gerngross

Ursula Prokop

Vor einiger Zeit zeigte das Jüdische Museum Wien die bemerkenswerte Ausstellung Kauft bei Juden, die sich mit den Wiener Warenhäusern befasste. Diese hatten sich weitgehend in jüdischem Besitz befunden. 

Inhalt

Im Rahmen des stark von Antisemitismus geprägten Diskurses zur modernen Entwicklung neuer Verkaufstechniken am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts spielte das Warenhaus Gerngross eine zentrale Rolle. Nicht nur, weil es das grösste der Donaumonarchie überhaupt war: überdies galt es als das „jüdische Warenhaus“ schlechthin und diente permanent als Angriffsziel. Eine eigene Betrachtung scheint daher legitim. 

 

Am Anfang des Unternehmens stand eine grossartige Erfolgsgeschichte. Der Begründer Alfred Gerngross (1844-1908), der aus Forth in Deutschland stammte, kam nach einem kurzen Praktikum in Frankfurt als Handelsgehilfe 1875 nach Wien, um vorerst im Stoffgeschäft von August Herz­mansky (1834–1896) zu arbeiten. Die anfängliche Zusammenarbeit der beiden wurde jedoch bald wieder beendet. Bereits ein paar Jahre später 1879 machte sich Alfred Gerngross mit seinem jüngeren Bruder Hugo (1857–1929) selbständig und eröffnete in der Kirchengasse 2–4 ein Band- und Seidenwarengeschäft, das insbesondere infolge seiner günstigen Preise florierte. Schon bald wurden Erweiterungen durchgeführt und 1888 erwarb Gerngross erstmals ein Haus in der Mariahilfer Strasse 48. In den nächsten Jahren erfolgten weitere Immobilienankäufe, so dass das Unternehmen zuletzt dreizehn Häuser in der Gegend besass.1 Das Sortiment wurde immer mehr erweitert und die Umsätze stiegen, auf Grund dessen nahm man einen grosszügigen Neubau in Angriff. 1902 beauftragt Gerngross das damals sehr prominente Architekturbüro Fellner &Helmer, das vor allem auf Theaterbauten spezialisiert war, mit diesem Vorhaben. Diese Entscheidung sollte auch voll aufgehen. Im Oktober 1904 konnte ein spektakuläres Warenhaus eröffnet werden, das sowohl technisch als auch formal den damals letzten westeuropäischen Standards entsprach. Ganz in der Formensprache des belgischen Art Nouveau präsentierte sich die prachtvolle Fassade zur Mariahilfer Strasse. Insbesondere die zentrale, glasüberdeckte Halle mit den umlaufenden Galerien und den geschwungenen Treppenläufen sollte eine spektakuläre Bühne für die saisonalen Inszenierungen von Gerngross liefern.2 Auch in technischer Hinsicht war das Projekt bahnbrechend. Neben der neuartigen Eisenbetonkonstruktion wurden umfassend Glasziegel (sogenannte Luxferprismen) zum Einsatz gebracht, um das Tageslicht optimal zu nutzen.3 Zum Staunen des in Scharen herbeiströmenden ­Publikums gab es erstmals einen „rollenden Teppich“ (Roll­treppe), der vom Erdgeschoss in den 1. Stock führte. Auch das Warenangebot wurde erweitert: neben dem Kerngeschäft von Textilien führte man jetzt auch Spielwaren, Möbel, Bürobedarf, Bücher, Musikalien und vieles andere mehr. 

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 Warenhaus Gerngross, Strassenfassade. Quelle:
Architektur d. XX. Jhdts., 1905.

Insbesondere der Umstand, dass das Unternehmen Konfektionsware anbot, diente den Antisemiten als Vorwand für vehemente Angriffe. Die christlich- sozialen Abgeordneten Hermann Bielohlawek und Hans Schneider liefen Sturm im Wiener Gemeinderat und beschworen den Ruin der kleinen Schneiderwerkstätten durch diese Konkurrenz, ebenso rief die antisemitische Presse, wie die Reichspost oder das satirische Magazin Kikeri zum Boykott der jüdischen Warenhäuser auf. Die Argumentation war insofern verlogen, als man das benachbarte Warenhaus Herzmansky, das gleichfalls Konfektion anbot, dessen Eigentümer aber kein Jude war, nicht angriff. Ebenso wurden die positiven Aspekte, wie der Umstand, dass Gerngross durch seine günstigen Preise es auch kleinen Leuten ermöglichte, einen Hauch von Luxus zu erleben und ausserdem, dass das Unternehmen Arbeitsplätze für rund 1.000 Angestellte bot, geflissentlich übersehen. Die zahlreichen Mitarbeiter von Gerngross bildeten überhaupt eine eigene Gemeinschaft für sich – es gab einen eigenen Sportverein, man veranstaltete jährliche Bälle und vieles andere mehr. Ungeachtet der Angriffe erfreute sich das Warenhaus, das immer wieder spektakuläre Veranstaltungen inszenierte, höchster Popularität, insbesondere bei den Damen, an die sich das Warenangebot besonders richtete: Fürstin Pauline Metternich besuchte einen Blumenkorso und Bertha von Suttner veranstaltete eine Friedenslotterie. Späterhin organisierte auch die Frauenrechtlerin Marianne Hainisch ihre Frauentreffen bei Gerngross

 

1908 verstarb Alfred Gerngross, der zu den tausend Reichsten in Wien zählte. Seine Verlassenschaft von vier Millionen Goldkronen vermachte er an seine acht Kindern zu gleichen Teilen, wobei er allerdings seine Töchter von der Geschäftsführung ausschloss.4 Beerdigt wurde er in der Alten Israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofes in einem schönen Jugendstil-Grab, das der Bildhauer Zelezny entworfen hatte. Die Arbeiterzeitung bescheinigte ihm in einem sehr positiven Nachruf, dass er für soziale Reformen zugänglich gewesen war und als einer der Ersten die Sonntagsruhe eingeführt hatte. 5 Sein Bruder Hugo führte mit Alfreds beiden Söhnen Paul und Robert das Unternehmen weiter. Bereits 1909 wurde ein Erweiterungsbau mit einem Erfrischungsraum eröffnet, wo man Konzerte, Vorträge und anderes mehr abhalten konnte. Überhaupt waren der Phantasie des Unternehmens keine Grenzen gesetzt, man veranstaltete Ausstellungen zu unterschiedlichsten Themen und die grossen dekorativen Inszenierungen zu Weihnachten und Ostern waren legendär. Einer der Verkaufsschlager waren die berühmten „Weissen Wochen“, wo man im Sinne eines modernen Marketings einige Artikel auch unter dem Einstandspreis verkaufte. 

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Warenhaus Gerngross, zentrale Halle. Quelle:
Architektur d. XX. Jhdts., 1905.

Während des Ersten Weltkrieges erlangte die Lebensmittelabteilung mit ihren niedrigen Preisen angesichts der Mangelwirtschaft eine besondere Bedeutung. In den Zwanzigerjahren wurden über den eigentlichen Verkauf hinaus weitere Einrichtungen eingeführt: ein Fotoatelier, eine Versicherung, eine Tierpflegeberatung, ein Theaterkarten- und ein Reisebüro. Insbesondere die Tagesfahrten zum Wintersport auf den Semmering erfreuten sich grösster Beliebtheit. Es gab nahezu keinen Lebensbereich, den Gerngross nicht abdeckte. 

 

All diese Aktivitäten verhalfen dem Unternehmen, auch während der Wirtschaftskrise relativ gut über die Runden zu kommen und die Arbeitsplätze weitgehend zu sichern.6 Immer wieder überraschte Gerngross mit höchst innovativen Errungenschaften, wie dem Einsatz eines „Leuchtturmes“ als Leuchtreklame oder mit Gratishauszustellungen. Nachdem Hugo Gerngross 1929 auf seinem Gut in Feistritz verstorben war, wurde das Unternehmen von der jüngeren Generation – den beiden Söhnen Alfreds – sehr klug weitergeführt. 

 

Mitten in der schwierigsten wirtschaftlichen Zeit konnte man 1930 sogar einen weiteren Zubau in der Lindengasse errichten, der ganz nach amerikanischen Vorbildern ausgerichtet war und neben einer „Sodafontäne“ einen mondänen Gastgarten auf der Dachterrasse anbot.7

Mit dem Hochkommen der Nationalsozialisten nahmen allerdings die antisemitischen Angriffe wieder zu. Im Dezember 1932, an einem sogenannten „Goldenen Sonntag“8, wurde mitten im Vorweihnachtstrubel ein Tränengasangriff auf das Warenhaus unternommen, der zu einer ungeheuren Konfusion führte. Nur durch die gute Organisation der Angestellten, die die Kunden schnell ins Freie führten, konnte ein grösseres Unglück verhindert werden. Mit Sprechchören und dem Verteilen von Flugzetteln – „Kauft nicht bei Juden“ – unterstützten weitere Akteure auf der Strasse den Anschlag.9 Die Rädelsführer konnten zwar relativ schnell ausgemacht werden, wurden aber in dem darauffolgenden Prozess im März 1933 freigesprochen beziehungsweise erhielten lächerlich milde Strafen, die durch die Untersuchungshaft bereits abgebüsst waren. Der Strafverteidiger der Attentäter war Dr. Otto Wächter, ein Nazi der ersten Stunde, der späterhin als Gouverneur von Krakau im Generalgouvernement Polen bei der Judenvernichtung eine bedeutende Rolle spielen sollte.10

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Grabmal Gerngross, Alte Israelitische Abteilung am Zentralfriedhof. Foto: U. Prokop, mit freundlicher Genehmigung.

Der Erfolg des Warenhauses Gerngross hielt ungeachtet aller Schwierigkeiten weiter an. Zur Zeit des Ständestaates beteiligte man sich an der Aktion der „Beköstigung hungernder Kinder“ und versorgte täglich dreissig Jugendliche mit einem Mittagessen. Noch 1936 erfolgten weitere Modernisierungen und Umbauten, die von namhaften Architekten ausgeführt wurden.11 Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 traf jedoch die antijüdische Politik der Nationalsozialisten die Familie Gerngross mit voller Wucht und unglaublich schnell. Als eines der ersten Unternehmen wurde das Warenhaus schon nach zwei Monaten im Mai des Jahres arisiert. Die Geschwister Gerngross traten als Vorstandsmitglieder zurück.12 Eine „Kaufhaus der Wiener AG“, geleitet von Dr. Hans Schürff, übernahm jetzt den Betrieb. 

 

Dieser Schlag war jedoch nur der Beginn der weiteren Tragödie der Familie. Eine der Töchter, Margarete (1891–1939), beging noch 1939 Selbstmord, und zwei der Geschwister, Robert (1876–1942) und Marietta (1918–1943), wurden im Zuge der Shoah ermordet.13 Drei der Söhne gelang die Flucht. Von ihnen kehrte nur Paul (1880–1954) nach Wien zurück.14 

 

Das Unternehmen wurde nach dem Krieg zwar restituiert, allerdings zu den damals üblichen, schäbigen Bedingungen, mit einer erheblichen „Wertminderung“.15 In der Folge wurde das Unternehmen verkauft, es kam zu mehreren Wechseln der Eigentümer und weiteren Umbauten. Der alte Glanz wurde jedoch nie wieder erreicht. 1979 fiel schliesslich das Hauptgebäude einem Grossbrand zum Opfer, so dass heute bis auf den Firmennamen absolut nichts mehr von diesem einstmals so stolzen Unternehmen vorhanden ist. 

 

 

 

Anmerkungen

 

 

1 Roman Sandgruber, Das Zeitalter der Warenhäuser, in: Kauft bei Juden (Kat. JMW), Wien 2017, S. 42f.

2 Der Architekt Ferdinand Fellner III. hatte zuvor in Belgien bei dem berühmten Jugendstilarchitekten Viktor Horta studiert.

3 Es gab auch eine elektrische Beleuchtung, aber Strom war damals noch relativ teuer. Bauakte/WSTLa/M.Abt.236A-16/EZ615.

4 Roman Sandgruber, Traumzeit für Millionäre, Wien 2013, S. 146.

5 Arbeiterzeitung 8.1.1908.

6 Das Unternehmen hatte 1924 trotz einigen Kündigungen noch immer rund 800 Mitarbeiter (Österreichischer Volkswirt 8.11.1924).

7 Der Tag, 6.4.1930, der Architekt dieses Anbaus war der Otto Wagner-Schüler Leopold Bauer.

8 „Silberner und Goldener Sonntag“ wurden die letzten Sonntage vor Weihnachten genannt, in denen die Geschäfte offen hatten.

9 Wiener Neueste Nachrichten 19.12.1932.

10 Dr. Otto Wächter (1901-49), war einer der wesentlichen Akteure des Juliputsches von 1934 und ab 1939 Gouverneur von Krakau, wo er zu den Hardlinern der Judenverfolgung gehörte.

11 Im Jänner 1936 wurde die Fassade von Architekt Karl Dirnhuber erneuert und im Oktober eine Verbindungshalle von Leopold Bauer errichtet.

12 Neues Wiener Tagblatt 13.5.1938; Tina Walzer/Stephan Templ, Unser Wien, Wien 2001, S. 158.

13 Robert Gerngross wurde am 9.4.1942 nach Izbica deportiert, sein genaues Todesdatum ist unbekannt;

 Marietta Gerngross wurde am 25.1 1943 in Auschwitz ermordet, siehe: Georg Gaugusch, Wer einmal war, 1. Bd. A-K, Wien 2011 u. DÖW/Opferdatenbank der Shoa.

14 Paul Gerngross hatte drei Töchter, die Jüngste war mit Julius Meinl IV., dem Inhaber der berühmten Kaffeefirma verheiratet.

15 Siehe Anm. 1.