Gruppen oder Individuen, die von der römisch-katholischen Kirche abweichende Glaubensinhalte und Lehrmeinungen vertraten und verbreiteten, galten im Mittelalter als Ketzer oder Häretiker (lat. hereticus). In den damals herrschenden Vorstellungen verschwammen die Grenzen zwischen Häretikern, Hexen und Juden. Die Geschichte des Jan Hus und seiner Anhänger führt uns in eine Welt der bedingungslosen Intoleranz von Kirche und Staat gegenüber solchen Randgruppen, denen man auch gegenseitige Absprachen unterstellte.
Jan Hus (auch Johannes Huss) war ein böhmischer Theologe, Prediger, Reformator und Märtyrer. Er wurde um 1369/72 zu Hussinetz in Böhmen (tschech. Husinec/heute Tschechische Republik) geboren und am 6. Juli 1415 zu Konstanz am Rhein in Schwaben (heute Baden-Württemberg) auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hus kritisierte die weltlichen Gesellschaftsstrukturen, den weltlichen Besitz und die Lehrgewalt der Kirche. Er forderte die freie Verkündigung des Evangeliums und die Eucharistie in beiderlei Gestalt (Brot und Wein). Er verurteilte den sittlichen Verfall, den Prunk und die Verschwendung des „katholischen“ Klerus. Er geisselte, wie nach ihm Martin Luther (1483–1546), den Ablasshandel (Seelenkauf) als Instrumentarium der materiellen Bereicherung der Kirche. Die Lehren des Jan Hus sind weitgehend von jenen des englischen Reformators John Wyclif (um 1330–1384) übernommen. Hus verfasste zahlreiche theologische und kirchenpolitische Schriften. Von seinem 1413 verfassten Hauptwerk De Ecclesia (Über die Kirche) war auch Martin Luther zutiefst beeindruckt. Jan Hus war volksnah. Er übersetzte Teile der Heiligen Schrift ins Tschechische. Vor allem aber predigte er in „seiner“ Bethlehemskapelle zu Prag in tschechischer Sprache und erlangte dadurch weit über die Stadt hinaus grosse Aufmerksamkeit in Böhmen und Mähren. So erklärt sich auch seine grosse Anhängerschaft, die weit über seinen Tod hinaus religiös, politisch und militärisch wirksam wurde. Jan Hus war vor Martin Luther der bedeutendste Reformator auf dem europäischen Kontinent und wird in der Tschechischen Republik als Volksheiliger verehrt. Noch heute existiert in Tschechien die Neuhussitische Kirche, die 1919/20 durch Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche entstanden war.
Hus wirkte zur Zeit der Abendländischen Kirchenspaltung (Schisma, 1378–1417). Es gab damals mehrere, miteinander konkurrierende Päpste: in Rom, Avignon und Pisa. Auch die böhmischen und römisch-deutschen Könige aus dem Hause Luxemburg spielten eine zentrale Rolle in diesem verworrenen Karussell europäischer Machtpolitik. Der beliebte Geistliche verbreitete seine Thesen in zahlreichen Predigten, sodass in Böhmen eine Art Volksbewegung entstand. Dadurch wurde der Reformator in die politischen Wirren der europäischen Herrscher- und Kirchenpolitik hineingezogen. Er wurde aufgefordert, sich dem Konzil zu Konstanz (1414–1418) zu stellen. In der Annahme, auf dem Konzil seine Thesen vortragen zu dürfen, folgte er einer Ladung dorthin. Dort wurde er jedoch 1414, obwohl ihm zuvor vom römisch-deutschen König Sigismund aus dem Hause Luxemburg (1368–1437) freies Geleit zugesichert worden war, gleich bei seiner Ankunft festgenommen und von den kirchlichen Instanzen in der Burg des Konstanzer Bischofs eingekerkert. Dies geschah – der damaligen Zeit entsprechend – unter unbeschreiblichen Bedingungen: Nahrungsentzug, tagsüber in Ketten, über Nacht in einen engen Verschlag gesperrt. Nachdem er seine Lehren unter keinen Umständen widerrufen wollte, wurde Jan Hus am 6. Juli 1415 unter unsäglichen Qualen als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Am 30. Mai 1416 wurde auch sein Mitstreiter Hieronymus von Prag (um 1379–1416) an derselben Stelle wie zuvor der Reformator in Konstanz verbrannt.
Titelblatt der Erstausgabe von De ecclesia, Hagenau 1520. Bayerische Staatsbibliothek, München, mit freundlicher Genehmigung.
Die Hussitische Bewegung
Nach der Verbrennung von Jan Hus trat seine Anhängerschaft, die Hussiten, in zwei Gruppen in Erscheinung: die gemässigten Utraquisten oder Calixtiner (lat. calix, Kelch), die vor allem das Heilige Abendmahl in beiderlei Gestalt forderten, und die militanten Taboriten, benannt nach der südböhmischen Gründungsstadt Tábor (daraus abgeleitet ihre berühmten Wagenburgen, Tabor, synonym für Wehranlage). Die Taboriten führten in der Folge (1419–1436) mehrere Gefechte und Belagerungen gegen „katholische“ Heere und Städte, vor allem in Böhmen und Mähren, aber auch in Österreich: in Zwettl, Waidhofen an der Thaya und den Vororten von Wien.
Äusserungen von Klerikern, hussitischen Gelehrten und Rabbinern
In den Verschwörungsvorstellungen verschmolzen die Grenzen zwischen Häretikern, Hexen und Juden, wobei den „abtrünnigen“ Häretikern das „Verharren in der „Sünde“ mehr zum Nachteil angerechnet wurde als den „verstockten“ Juden. Im späten Mittelalter dürfte die Verachtung des („katholischen“) geistlichen Standes durch ihr Kirchenvolk ein beachtliches Ausmass angenommen haben. Es hiess, dass den Juden bisweilen mehr Hochachtung gezollt werde als den Klerikern. Seitens der katholischen Kleriker wurden John Wyclif, Jan Hus und Hieronymus von Prag als „Teufelssöhne“ bezeichnet. Über Jan Hus hiess es, er habe „den Rat des Friedens verlassen“ und „Rat gepflogen mit den Juden“. Auch wurde Jan Hus mit Judas Iskariot, dem Christus-Verräter, gleichgesetzt. In der Biographie des Reformators finden sich kaum Hinweise auf sein Verhältnis zum Judentum. Allerdings attackierte Jan Hus die Juden dafür, dass sie „in ihrer unversöhnlichen Haltung gegenüber den Christen verharrten“. Dies tat auch Martin Luther einhundert Jahre später in höchst unschöner Weise.3 Der Vorwurf, Hus hätte sich von Juden beraten lassen, ist nicht erwiesen. Jedoch erinnert sein Tod auf dem Scheiterhaufen an die Verfolgung und Ermordung von Juden, Häretikern und Hexen durch die Kirche und weltliche Obrigkeiten.
Jan Hus, Kupferstich von Hendrik Frans Verbrugghen (1654–1724), Antwerpen 1690. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei: File:Jan Hus Bouttats.jpg
Zu einer neuen Sicht gegenüber Juden gelangten die Hussiten durch die Erklärung des Matthäus von Janov (1350/55–1393), dass sich der „Antichrist“ (Satan) nicht in Gestalt der Juden, sondern in Gestalt der „Päpstlichen“ manifestiere. Diese Sicht wurde insbesondere durch den mit Jan Hus befreundeten Utraquisten Jakob von Mies (1372–1429) verbreitet. Ein Licht auf die Haltung der Hussiten im Sinne traditioneller Urteile über die Juden werfen die Schriften des Utraquisten Jacobellus de Stribro (um 1372–1429). In seiner Abhandlung De Usura (Über die Geldleihe) schrieb er, es wäre leichter, die Juden zu bekehren, wenn sie, wie die anderen Völker, Landwirtschaft und Gewerbe betrieben. Dann hätten sie nämlich weniger Zeit für ihr Studium und würden eher konvertieren. (Dies deckt sich mit den Äusserungen von Rabbinern, dass das Geldgeschäft Juden genügend Zeit für das Talmud-Studium liesse.) Die Förderung von Juden durch weltliche Herrscher solle jedoch beibehalten werden, da sich die Juden dereinst (am Jüngsten Tag) als Teil der g‘ttlichen Offenbarung bekehren würden. Seitens der Rabbiner gab es den bekannten Disput über Trinität und „wahren“ Monotheismus.
Bildnis des Jan Hus von Johann Agricola (1534-1590), 1562 . Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei: File:BildnisJanHus1562.jpg
Vermeintliche Absprachen zwischen Juden und Hussiten
Für Koalitionen zwischen Juden und Hussiten fehlen schlichtweg historische Quellenbelege. Sie bleiben daher Vermutungen, Gerüchte und Unterstellungen. In einer von den Konstanzer Konzilsvätern 1416 dem König Sigismund eingesendeten Beschwerdeliste wurde unter anderem behauptet, im (hussitischen) Böhmen erfreuten sich die Juden grösserer Freiheiten als die („katholischen“) Priester. Eine Koalition zwischen Häretikern und Juden war auch hier nicht in Worte gesetzt, allenfalls insinuiert. Konkreter und vage zugleich waren Gerüchte und Befürchtungen im Vorfeld der Wiener Gesera von 1420/21. Als Wiener Gesera bezeichnet man das grosse Pogrom, bei welchem auf Anordnung Herzog Albrechts V. (1397-1439) aus dem Hause Habsburg die jüdischen Gemeinden des Herzogtums Österreich durch Zwangstaufe, Vertreibung und Hinrichtung (Verbrennung) ausgelöscht wurden. Manche sahen darin die Einnahmequelle zur Finanzierung der Hussitenkriege. Am 9. Juni 1419 wurde bei einer Sitzung der Theologischen Fakultät der Universität Wien unter anderem die Frage eines vermeintlichen Bündnisses (confederatio) zwischen Juden, Hussiten und Waldensern4 aufgeworfen. Kurioserweise nennt gerade die „Wiener Geserah“, eine bekannte jiddische Schrift über die Ereignisse von 1420/21, vermeintliche jüdische Waffenlieferungen an die Hussiten als wichtigsten Grund für das Pogrom. Die Forschung ist sich darüber durchaus uneins, sowohl, was die wirtschaftlichen oder religiösen Motive des Pogroms anlangt, als auch darüber, ob es tatsächlich geheime Absprachen über jüdische Geld- und Waffenlieferungen an die Hussiten gegeben haben könnte. Jedenfalls fielen den Angriffen und Eroberungen „katholischer“ Städte durch die Taboriten auch Juden zum Opfer. Darüber hinaus gibt es bei manchen hussitischen Autoren auch klar antijüdische Äusserungen – ganz in der Tradition mittelalterlicher Stereotype.
Jan Hus auf dem Scheiterhaufen, von Diebold Schilling d. Ä. (Spiezer Chronik, 1484/85). Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei: File:Spiezer Chronik Jan Hus 1485.jpg
Anmerkungen
1 Die Begriffe katholisch und Katholiken als Konfessionsbezeichnung gab es damals noch nicht. Auch Luther kannte noch keine Katholiken als Konfession. Die Konfessionalisierung beginnt erst nach dem Tridentinischen Konzil (1545–1563). Man sollte vielleicht treffender von „päpstlich“ und „den Päpstlichen“ sprechen.
2 Ich danke meinen lieben Kollegen ao. Univ.-Prof. Dr. Klaus Lohrmann, MAS vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien und Ass. Prof. Mgr. Petr Elbel, PhD von der Masaryk Universität Brno für ihre wertvollen Hinweise und Informationen.
3 Vgl. dazu die Beiträge von Kristina Schönberger und Christoph Tepperberg in DAVID Heft 115 (2017).
4 Die Waldenser sind eine vorreformatorische Glaubensgruppe, die von Petrus Valdès (1140–1217) in Lyon/Frankreich gegründet wurde und noch heute vornehmlich in Italien existiert.
Nachlese (Auswahl)
Bautz Friedrich Wilhelm: HUS (Huss), Johann. In: BBL, Band II (1990), Spalten 1194-1198. Brugger Eveline: Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung – Juden in Osterreich im Mittelalter. In: Eveline Brugger/Martha Keil/Albert Lichtblau/Christoph Lind/Barbara Staudinger: Geschichte der Juden in Osterreich. Wien: 2013 (= Ergänzungsband zur Österreichischen Geschichte, hrsg. v. Herwig Wolfram), S. 123-227, bes. S. 221-224. Brugger Eveline: Die „Wiener Gesera“ von 1420/21 – Hintergründe, Ablauf und Folgen. In: Dialog Nr. 119 (April 2020), S. 21-32. Brugger Eveline / Wiedl Birgit: Die Wiener Gesera 1420/21. Das gewaltsame Ende des jüdischen Lebens im mittelalterlichen Herzogtum Österreich. In: DAVID Heft 126 (Oktober 2020). Denk Ulrike: Von einer fiktiven Ketzerverschwörung zum Juden-Pogrom. Die Verstrickung der Wiener Universität in die „Geserah“ 1419–1421. – (https://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/von-einer-fiktiven-ketzerverschwoerung-zum-juden-pogrom). Elbel Petr / Wolfram Ziegler: Am schwarczen suntag mardert man dieselben juden, all die zaigten vill guets an under der erden... Die Wiener Gesera: eine Neubetrachtung. In: „Avigdor, Benesch, Gitl“ Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien im Mittelalter. Klartext-Verlag, Brünn-Prag-Essen 2016, S. 201-268. Elbel Petr / Wolfram Ziegler: Die österreichischen Juden als Opfer von religiösem Fanatismus – oder eines machtpolitischen Kalküls? Der Verlauf und die Hintergründe der Wiener Gesera (1420/1421). In: Maria Theissen (Hrsg.): Gotteskrieger. Der Kampf um den rechten Glauben rund um Wien im 15. Jahrhundert. Begleitband zur Ausstellung im Stift Klosterneuburg. Edition Stift Klosterneuburg, 2022, S. 71-77. Elbel Petr: Im Zeichen der Wiener Gesera? Die Judenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich in Mähren. In: Petr Elbel / Alexandra Kaar / Jiří Němec / Martin Wihoda (Hrsg.): Historiker zwischen den Zeiten. Festschrift für Karel Hruza zum 60. Geburtstag. Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag, 2021, S. 133-160. Heil Johannes: „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert). Essen: Klartext Verlag, 2006. Hus Jan. In: Ökumenisches Heiligenlexikon (https://www.heiligenlexikon.de/BiographienJ/Johannes_Jan_Hus.html). Hus Jan. In: Wikipedia. (https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Hus). Kestenberg-Gladstein Ruth: Hussiten. In: Englische Enzyclopädie. 2. Aufl. 2007. Lohrmann Klaus: Judenrecht und Judenpolitik im mittelalterlichen Österreich (= Handbuch zur Geschichte der Juden in Österreich, Reihe B, Bd. 1). Wien: Böhlau, 1990, bes. S. 298-309. Lohrmann Klaus: Die Wiener Juden im Mittelalter. Berlin-Wien: 2000, S. 155-173. Lohrmann Klaus: Im Vorfeld des Gedenkens. In: Wiener Geschichtsblätter 73/74 (2018), S. 277-279 u. S. 298-311. Patschovsky Alexander: Feindbilder der Kirche: Juden und Ketzer im Vergleich (11.-13. Jahrhundert). In: Vorträge und Forschungen: Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge, Bd. 47 (1999), S. 327-355, bes. S. 333 (https://doi.org/10.11588/vuf.1999.0.17580). Petrin Silvia: Der österreichische Hussitenkrieg 1420-1434.Wien: 1982 (= Militärhistorische Schriftenreihe, 44).