Ausgabe

Die unbekannte Familie

Monika Kaczek

Inhalt

Rudolf Leo: Versteckt und verschwiegen. Erinnerungen von Siegfried Loewe.

Salzburg-Wien: Otto Müller Verlag 2022.

128 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Abbildungen, Euro 24,00.–

ISBN: 978-3-7013-1301-3

Auch als E-Book erhältlich, ISBN/GTIN 9783701363018, Euro 18,99.–

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Im hohen Alter beschloss der frühere Romanistik-Professor Siegfried Loewe, der mit seiner Schwester Rebecca von 1942 bis 1945 von der belgischen Lehrerin Andrée Geulen versteckt worden war, seine Lebenserinnerung aufzuzeichnen. An seiner Seite recherchierte der Historiker Rudolf Leo Archivmaterial und Fakten, die zu dem vorliegenden, beeindruckenden Buch führten.

Das aus Polen stammende Ehepaar Zlata und Chaïm Grossmann, das Anfang der 1930er-Jahre in Saarbrücken lebte, flüchtete vor den Nationalsozialisten nach Brüssel und entschied sich 1942, seinen damals dreijährigen Sohn Siegfried und die einjährige Rebecca einer fremden Familie zu übergeben. Unterstützung fanden die Eltern bei der belgischen Lehrerin und Widerstandskämpferin Andrée Geulen, die 1989 von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt wurde und am 31. Mai 2022 im 101. Lebensjahr starb. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gelang es der couragierten Frau, rund 3.000 jüdische Kinder zu retten.1

Das Ehepaar Grossmann wurde im Konzentrationslager ermordet, doch Siegfried und Rebecca, die unter falschem Namen im Versteck überleben konnten, kamen 1945 in ein Kinderheim, wo sie von dem aus Wien stammenden Ehepaar Loewe adoptiert wurden. Die Loewes, die ebenfalls versteckt überlebt hatten, kehrten mit den beiden nach Wien zurück. Rebecca und Siegfried wuchsen in einem strengen Haus auf und wurden nie über ihre wahre Herkunft aufgeklärt. Als Harry, der ältere Bruder der Geschwister, die Adresse der Loewes in Wien herausfinden konnte, stiess er dort auf eine Mauer des Schweigens: 

 

„In rund einem Dutzend Briefen zwischen 1950 und 1962 versuchte Harry Grossmann das Ehepaar Loewe davon zu überzeugen, seinen Geschwistern die Wahrheit zu sagen und die Familie wieder zusammenzuführen. Die Briefe klangen verzweifelt, manchmal traurig, oft wütend, immer in der Sie-Form.“ (S. 57)

Erst als Student an der Pariser Sorbonne erfuhr Siegfried Loewe zufällig von seiner leiblichen Familie, als ihm eine Übersetzung der notwendigen Dokumente ausgehändigt wurde, die zuvor seine Adoptivmutter an ihm vorbei eingereicht hatte:

„Er erfuhr plötzlich, dass sein ursprünglicher Name ‚Grossmann‘ und nicht ‚Loewe‘ lautete. Damit war klar, dass auch seine Schwester eine gebürtige ‚Grossmann‘ sein musste. Für ihn war diese Erkenntnis ein grosser, tiefgreifender Schock. (...) Nachdem das Geheimnis endlich gelüftet war, fuhr er 1962 für drei Monate nach Israel, um seine Schwester zu besuchen und in zwei Kibuzzim zu arbeiten. (...) ‘Frau Loewe hat einen schweren Vertrauensbruch begangen, sie hatte uns belogen und betrogen und eine ganze Familie zerstört’.“ (S. 89)

 

Am 29. September 1967 heiratete Siegfried Loewe, damals wissenschaftlicher Assistent an der Universität Wien, die Bibliothekarin Birgit Maria Czurda. Aus der Ehe entstammen drei Kinder: Robert Loewe (1968), Christian Loewe (1971) und Susanne Barrios (geborene Loewe; 1978).

Im September 2021 erhielt die mutige Retterin folgende Grussbotschaft:

„Hochverehrte Andrée Geulen!

Ein ehemaliges Kind, welche durch Ihr Bemühen und Ihr Engagement gerettet wurde, verspürt das Bedürfnis, Ihnen zu Ihrem 100. Geburtstag Ehre zu erweisen. Mit den allerbesten Wünschen und dem Ausdruck meiner tief empfundenen Dankbarkeit,

Siegfried Grossmann (Pierre Legros) „ (S. 108)

 

Anmerkung

 

1 https://righteous.yadvashem.org/?search=Andr%C3%A9e%20Geulen&searchType=righteous_only&language=en&itemId=4015000&ind=0 (13.07.2023)

 

Zum Autor

Rudolf Leo wurde 1962 in der Salzburger Gemeinde Bramberg am Wildkogel geboren. Nach seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann diplomierte er in Wien als Pädagoge für Sonder- und Heilpädagogik. Seit 1997 arbeitete er im Kommunikationsbereich diverser Landesregierungen und war von 2012 bis 2013 Mitarbeiter im Forschungsteam der Wiener Wilhelminenberg-Kommission. 2013 promovierte er am Institut für Zeitgeschichte mit einer Dissertation zum Thema Der Pinzgau unterm Hakenkreuz, die 2013 im Otto Müller Verlag als Buch erschienen ist. Seit 2012 hat Rudolf Leo einen Lehrauftrag für Geschichte an der Universität Linz inne und ist ausserdem Mitarbeiter der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz.