Christoph Tepperberg
Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie.
München: Piper Verlag, 2. Aufl. 2023.
528 Seiten, Hardcover, Euro 28,80.- (E-Book Euro 29,90.-)
EAN 978-3-492-05993-0
Hannah Arendt (1906–1975) wurde als Tochter säkularer jüdischer Eltern in Linden bei Hannover geboren und wuchs bei ihrer Familie in Königsberg, der Hauptstadt Ostpreussens (heute Kaliningrad/Russland) auf. (S. 35-67) Sie begann 1924 ihre Studien zu Marburg/Lahn: das Studium der Philosophie bei dem später gefeierten Phänomenologen Martin Heidegger (1889–1976), mit dem sie auch eine Liebesbeziehung verband, der Evangelischen Theologie beim entmythologisierenden Neutestamentler Rudolf Karl Bultmann (1884–1976) und der griechischen Philologie. 1926 ging sie zunächst nach Freiburg/Br. zu Edmund Husserl (1859–1938), dem Lehrer Heideggers und Begründer der Phänomenologie. 1928 promovierte sie in Heidelberg bei dem bekannten Existenzphilosophen Karl Jaspers (1883–1969); Dissertation: „Der Liebesbegriff bei Augustin“ (1929). (S. 69-102) Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 floh sie zunächst nach Paris, dann 1941 in die U.S.A. (S. 103-282) Sie war schon früh mit Antisemitismus konfrontiert und mit den Ideen von Zionismus und Marxismus in Berührung gekommen. In den Vereinigten Staaten, wo sie sich als Philosophin entfalten konnte, lernte sie auch den „Hautfarbenrassismus“ kennen. In diesem Biotop gelang ihr die Publikation ihres ersten Hauptwerkes: „Origins of Totalitarism“ 1951 (deutsch: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, 1955). Aus ihrem reichen Oeuvre sind unbedingt zu nennen: „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (1960), „Eichmann in Jerusalem“ (1963, 1964), „Über das Böse“ (1965) sowie „Macht und Gewalt (1970)“. Hannah Arendt starb 1975 in New York City.
Arendt war jahrgangsgleich mit Adolf Eichmann (1906–1962), dem Organisator des Holocaust. Bekannt wurde sie mit dem vielbeachteten und vielkritisierten Buch „Eichmann in Jerusalem“ (1963, deutsch 1964). In dieser Publikation über den Eichmann-Prozess 1961, worin der NS-Scherge den Eindruck eines biederen, kleinen „Hanswurst“ vermittelte, prägte Arendt den heute allgemein geläufigen Begriff von der „Banalität des Bösen“ und berichtete über die fatale Rolle der Judenräte bei der Selektion in die Vernichtungslager: „Diese Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte.“ Vor allem die Äusserungen über die Judenräte rief in der Judenheit Empörung hervor. Sie hätte keine Liebe zu ihrem Volk vor, warf man ihr vor, worüber sie zurecht tief gekränkt war. (S. 433-445)
Neben verschiedenen Abhandlungen über Leben und Werk von Hannah Arendt erschien 1982 unter dem Titel „Hannah Arendt: For Love of the World“ die bedeutende Biographie der Elisabeth Young-Bruehl (1946–2011). Nun ist – unter Auswertung bislang unbekanntem Archivmaterials – eine neue Biographie der grossen Philosophin erscheinen. Dabei konzentrierte sich der ausgewiesene Experte Theodor Meyer auf zwei Lebensphasen von Hannah Arendt: auf die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und auf ihre Zeit in den U.S.A. – bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“. (S. 26) Nach jahrelangen Forschungen erscheint insbesondere Arendts Tätigkeit zwischen 1934 und 1938/39 während des französischen Exils in einem neuen Licht. Sie wirkte damals als Sekretärin des ebenfalls im Exil befindlichen Schriftstellers Arnold Zweig (1887–1968) und half im Rahmen der Organisation Jugend-Alijah mehreren hundert deutsch-jüdischen Kindern und Jugendlichen, über Frankreich nach Palästina zu entkommen (S. 22, 103-206). Sie hielt sich 1935 für drei Monate selbst in Palästina auf und wurde auch für einen Monat im französischen Internierungslager Gurs (Camp de Gurs, nördlich der Pyrenäen) angehalten. (S. 20-23)
Auch in finsteren Zeiten, die sie selbst als deutsche Jüdin durchlebt hatte, hielt sie immer an der Wahrheit fest, meinte Thomas Meyer am 4. November 2023 im Interview mit dem MDR-Kulturredakteur Stefan Nölke. Unvergessen bleibt ihr Gespräch vom 16. September 1964 mit dem Journalisten Günter Gaus (1929–2004) in der ZDF-Sendereihe „Zur Person“, dass inzwischen auf YouTube millionenfach geteilt wurde. (S. 313-321) Thomas Meyer war lange nicht klar, dass die Philosophin in diesem Interview den Schlüssel für die Deutung der Biographien anderer „eingeschmuggelt“ hatte: „Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ An diesem Satz lässt sich verstehen, warum Arendt das Leben und Erleben als die einzig verfügbare Grundlage des Denkens ansah, und dass der Zugang zum Leben – auch zum eigenen – nur über das Denken führt. Wobei Denken für Arendt immer Handeln ist und immer in der Welt stattfindet, im Austausch mit sich selbst, mit anderen, in der Öffentlichkeit, sichtbar in der Geschichte. Arendt war zugleich Biografin und Autobiografin. Handeln und Denken gehörten für sie stets zusammen. Für Thomas Meyer bildeten diese Sätze den Leitfaden zu seiner neuen Biografie. (S. 25-34) Das interessante Buch verfügt über ein Abkürzungs- und Siglenverzeichnis (S. 485-486), Anmerkungen/Endnoten (S. 487-507), Bildnachweis (S. 509) und ein Personenregister (S. 511-521).
Zum Autor
Thomas Meyer, Jahrgang 1966, studierte an der LMU München (Promotion 2003, Habilitation 2009) und lehrt dort als Professor für Philosophie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ideengeschichte und jüdische Philosophie des 19./20. Jahrhunderts. Er ist Herausgeber der auf sieben Bände ausgelegten neuen Hannah Arendt-Studienausgabe beim Piper Verlag, zu dessen Autorinnen seit 1958 auch Hannah Arendt zählte.