Christoph Tepperberg
Jürgen Pettinger: Dorothea. Queere Heldin unterm Hakenkreuz. Romanbiografie.
Wien: Kremayr & Scheriau Verlag 2023.
192 Seiten, Hardcover, 17 SW-Abbildungen, Euro 24,00.- (E-Book: Euro 18,99.-)
ISBN: 978-3-218-01404-5; E-Book: ISBN: 978-3-218-01405-2
Wieder Angst in Österreich?
Wer hätte sich vorstellen können, dass das Grauen, das wir seit 78 Jahren für überwunden glaubten, sich 2023 wiederholen würde? Das Massaker der Terrorgruppe Hamas an israelischen Zivilisten am 7. Oktober führte in Europa fatalerweise zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Auch in Österreich kam es zu öffentlichen anti-israelischen Hasstiraden und zum Anstieg antisemitischer Vorfälle um mehr als 300 Prozent. Entsprechend stieg die Angst der Juden in unserem Lande, was sich auch im Umgang mit öffentlichen jüdischen Aktivitäten widerspiegelt. Eines dieser Events betraf das hier vorliegende Buch: Am 5. November twitterte der Autor: Eine geplante Lesung aus seinem Buch wurde abgesagt. Begründung: Die Veranstalter wollen aus Sicherheitsgründen derzeit keine Veranstaltungen mit „jüdischem Konnex“ haben. Das Problem sei nicht die Absage an sich, sondern, dass Menschen in Österreich wieder Angst haben müssen. Die Veranstalter – selbst jüdisch – befürchteten antisemitische Übergriffe. Vor 80 Jahren haben weit gefährlichere Situationen als die heutigen Heldinnen und Helden hervorgebracht. Das vorliegende Buch schildert das Leben und den Mut einer solchen Heldin während der NS-Zeit, die 2023 auch ihren 120. Geburtstag gefeiert hätte.
Heldin des Buches ist die einst berühmte Schauspielerin Dorothea Neff (1903 München – 1986 Wien), mit bürgerlichem Namen Antonie Regina Schmid. Nach ihrer Ausbildung in München begann sie eine Bühnenlaufbahn in Regensburg und Aachen, kam dann ans Staatstheater München, nach Köln und Gera, 1939 schliesslich an das „Deutsche Volkstheater“ in Wien. Die Modeschneiderin Lilli (Wilhelmine) Wolff (1896 Köln – 1983 Dallas/Texas) stammte aus einer streng gläubigen jüdischen Familie, eröffnete zusammen mit einer Freundin einen Modesalon in Köln und wurde dort wegen ihrer jüdischen Abstammung von den Nazis enteignet. (S. 59) Von 1941 bis 1945 versteckte Dorothea ihre jüdische Freundin Lilli, die von der Deportation bedroht war, in ihrer Wohnung in der Annagasse Nr. 8 in der Wiener Innenstadt und gefährdete damit nicht nur ihre Theaterkarriere, sondern auch ihrer beider Leben. Lilli Wolff lebte nun als U-Boot. Mit Mut, List und Opferbereitschaft gelang die Geheimhaltung. Unterstützt wurde sie dabei vom damals jungen Mediziner und später berühmten Psychiater Erwin Ringel (1921–1994), der im selben Haus wohnte und Lilli Wolff im Krankheitsfall betreute. 1944 wurden in Wien alle Theater geschlossen, Dorothea zur Arbeit an eine Textilfabrik kommandiert, wo sie auch ihr spätere Lebenspartnerin, die Schauspielerin Eva Zilcher, bürgerlich Eva Dorothea Schmid (1920 Würzburg – 1994 Wien) kennenlernte. (S. 129 ff.) Sie sorgte weiterhin für Lilli und bestach die Hausmeisterin. Lilli blieb in der Wohnung – in ständiger Angst davor, verräterische Geräusche zu verursachen: „Die Angst, dass die Nazis die Treppe heraufkommen, um uns zu holen, hat mich nie verlassen. Mich, weil ich Jüdin war, Dorothea, weil sie mich versteckt und beschützt hat.“ (Lilli Wolff, S. 42) „Wenn man Dorothea Neffe nur ansah und erst recht, wenn man mit ihr sprach, verstärkte sich immer mehr der Eindruck: eine Frau von Wuchs und Charakter, gerade, aufrecht und fest wie ein Baum ohne jede Anpassungstendenzen.“ (Erwin Ringel, S. 65) „Was es heisst, jahrelang im Verborgenen zu leben? Es bedeutet die ständige Angst, entdeckt und getötet zu werden. Auf der anderen Seite habe ich jeden Tag auch die innigste, grosszügigste und treueste Liebe und Freundschaft zwischen Menschen erlebt, die zusammenhalten, um einer der ihren das Leben zu retten.“ (Lilli Wolf, S. 112) 1944 wurde bei Lilli ein Brusttumor diagnostiziert, sie wurde unter dem Namen Antonie Schmid unerkannt und erfolgreich im Wiener Allgemeinen Krankenhaus behandelt. (S. 87-111) 1944 begannen die Alliierten auch ihre Bombardements auf die Stadt, was die Bewohner in die (Luftschutz-) Keller verbannte: „Das Bombardement wurde immer intensiver und schrecklicher. Wir lebten nun alle im Keller. Die Menschen schliefen, assen und kochten dort. Es war wie in einem Ameisenbau.“ (Lilli Wolf, S. 150)
Nach dem Krieg setzte Dorothea Neff ihre Karriere am Wiener Volkstheater fort, Gastspiele brachten sie ans Neue Theater in der Scala und ans Burgtheater. 1973-1976 war Neff am Burgtheater und am Akademietheater engagiert. Wegen ihrer allmählichen Erblindung musste sie ihre Schauspielkarriere vorzeitig beenden und gab nur noch privaten Schauspielunterricht. 1978 wurde sie zum Ehrenmitglied des Volkstheaters ernannt. Dorothea hatte über ihre „Heldengeschichte“ lange Zeit geschwiegen. Nur wenige wussten davon. Erst 1978 erfuhr eine Wiener Journalistin von der Rettungsaktion 1941-1945 und konnte Dorothea Neff für ein Interview gewinnen, das der damalige israelische Botschafter in Wien an die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem weiterleitete. Am 21. Februar 1980 kam es im Wiener Akademietheater zur Ehrung durch den israelischen Botschafter in Anwesenheit von Bundespräsident Rudolf Kirchschläger (1915–2000): Dorothea Neff wurde mit der Medaille von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. (S. 187) In der Folge konnte Dorothea trotz ihrer Erblindung auch ihre Schauspielkarriere wieder aufnehmen. Sie trat zuletzt 1981 zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Eva Zilcher in einer beliebten TV-Serie des ORF auf. Dorothea Neff starb am 27. Juli 1986 in Wien und bekam ein Ehrengrab der Stadt auf dem Wiener Zentralfriedhof. (Auch Eva Zilcher wurde 1994 in diesem Grab beigesetzt.) 2007 hat man in Wien-Neubau den Dorothea-Neff-Park, Ecke Seidengasse/Bandgasse, 2018 in Wien-Meidling den Dorothea-Neff-Weg nach ihr benannt. Die Geschichte von Dorothea und Lilli hat Felix Mitterer in seinem Drama Du bleibst bei mir verarbeitet, das am 9. September 2011 am Wiener Volkstheater uraufgeführt wurde. Lilli Wolff emigrierte nach dem Krieg in die U.S.A. und hat nie wieder österreichischen Boden betreten. Sie konnte sich zusammen mit ihrer Kölner Partnerin in Dallas eine neue Existenz aufbauen und starb 1983 in Dallas, Texas.
Nach aufwendigen Recherchen in Dokumenten und wiederentdeckten Tonaufnahmen gelang es Jürgen Pettinger, seinen Protagonistinnen eine fundierte Stimme zu geben. Er führt den Leser direkt in das Grauen der Nazizeit, in die Häuser, Gassen und Luftschutzkeller von Wien. Andreas Brunner, Historiker und Leiter des Forschungszentrums für queere Geschichte in Wien, beschäftigt sich im Vorwort mit den rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für homosexuelle Menschen während der NS- und Nachkriegszeit. (S. 5-10) Ein Epilog des Autors (S. 179-188) befasst sich zusammenfassend mit dem Nachkriegsschicksal der Protagonistinnen im heterosexuellen Umfeld Österreichs. (S. 179-188) Quellenangaben (S. 189) und Bildnachweis (S. 191) ergänzen dieses Büchlein. Eine lesenswerte Heldinnengeschichte und berührende Romanbiografie.
Zum Autor
Jürgen Pettinger, Jahrgang 1976, studierte Wirtschaft & Management in Innsbruck. Er ist Redakteur und Moderator beim ORF, beschäftigt sich mit Randgruppen, insbesondere während der NS-Zeit. Sein Buch Der Fall Franz Doms, erschienen 2021 bei Kremayr & Scheriau, wurde mehrfach ausgezeichnet.