404: Not Found
Als Kind von den Nazis verfolgt, heute von Unmengen an Erinnerungen beseelt: Thomas Frankl hat es momentan eilig, vom Schicksal seiner erweiterten Familie zu berichten. Die Bilder seines Vaters, des Auschwitz Überlebenden Adolf Frankl, ruhen derweil unbesichtigt in einem Depot.
„Meine Grossmutter hat die Toten gewaschen!“ Kurzes Nachdenken. „In Friedenszeiten nahm sie immer meine Mutter mit.“ Der inzwischen 88-jährige Thomas Frankl war als jüdisches Kind vor den Nazis erfolgreich bei Nonnen versteckt, denn die Ursulinen waren Kundinnen im Stoff-, Möbel- und Tapezierer-Geschäft seiner Eltern gewesen. Der Ort, in dem das Kloster stand, hiess Sveti Kriz, am Fluss Hronom gelegen.1 Zeitweise lebten Thomas und seine Schwester Erika Frankl aber auch im Bunker der Familie Holubek (als Retter wurde sie später von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet), die lauter Töchter hatte. Es gab immer die Angst, eventuell angezeigt zu werden. Damit der Kleine für Fremde nicht auffiel und ein bisschen an die frische Luft kam, musste er im Garten ein Kopftuch sowie Mädchenkleidung tragen. Später, nach der Befreiung, war Thomas Frankl in der Modemacher-Branche in Wien und New York tätig.
„Jüdische Tote werden gewaschen, es wird ihnen ein Todesmantel angelegt. Einen Todesmantel von meinem Vater haben wir noch – ich glaube, er besass zwei Stücke. In Weiss!“, ruft er in den Telefonhörer. Irgendwie erzählt Thomas Frankl in letzter Zeit sehr viel und sehr schnell von seiner Familie und aus deren Vergangenheit; früher scherzte er vorwiegend und amüsierte sich. Momentan scheint er es eilig zu haben, Informationen weiterzugeben:
„Mein Vater war vor Auschwitz ein Lebemann, meine Eltern haben sich beim Tennis kennengelernt. Sie haben die Hochzeitsnacht in Wien im Hotel Imperial verbracht! Damals ist man von Pressburg nach Wien auf einen Kaffee gefahren. Schon meine Urgrosseltern waren gebildete Leute und besuchten bestimmte Theaterstücke in Wien. Sie sind leider bei dem grossen Wiener Ringtheaterbrand umgekommen. Deswegen durften ihre Kinder und wir später niemals die Oper „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach anschauen.“
Thomas Frankls Grossvater, Oskar Nachmias, der Vater seiner Mutter, wuchs nach der Tragödie des Ringtheater-Brandes als Waisenkind auf.
Knappe Flucht vom Güterbahnhof
„Mein Onkel Eugen, ein Bruder meiner Mutter, war Anwalt und arbeitete unter anderem in Zagreb im Untergrund. Doktor Eugen Nachmias wurde in Bratislava angeschossen, als er auf dem Rückweg in den Bunker war. Ein Soldat schmiss ihn aus dem Fenster, schaute hinaus und fragte angeblich einen untenstehenden Soldaten: Ist er schon krepiert?“
Das Wort „kre-piert“ wiederholt Thomas Frankl mehrmals und lässt es nachhallen. Dieser Onkel Eugen sei als junger Mann sehr schlampig gewesen, „wenn man seinen Schrank öffnete, fiel alles heraus“, und hätte lange bei der Grossmutter Frieda gewohnt. Ein anderer Onkel rettete sich nach Ecuador, besass später eine Kalium-Mine und ein Hotel und bewunderte die Indigenen. „Dieser Bruder meiner Mutter lud mich immer wieder ein, ich solle herüberkommen nach Ecuador. Ich hatte aber Angst hinzufahren“, erinnert sich Thomas Frankl.
„Onkel Alexander schickte viele Fotos von Santo Domingo de los Colorados, wurde aber schliesslich seltsamerweise von einem seiner Angestellten ermordet. Ich weiss sogar noch das Datum seiner Ermordung auswendig: Es war der 27. September 1972, der Geburtstag meiner Schwester Erika. Wo dieser Onkel und seine Frau, Tante Helen, ruhen, weiss ich nicht - aber das werde ich noch herausbekommen!“
Der dritte Onkel, namens Árpád, und seine Freundin Irene waren direkt in diese lebensrettende Aktion am Güterbahnhof involviert:
„Direkt nachdem meine Mutter am Güterbahnhof so mutig dem SS-ler Alois Brunner entgegengetreten war und wir es geschafft hatten, den Güterbahnhof zu verlassen, waren wir eine Zeitlang ebenfalls bei Tante Irene versteckt, sind aber nicht lange geblieben. Mein Vater wurde aber nach Auschwitz deportiert. Onkel Árpád war mit am Bahnhof gewesen, denn er war an den hohen Feiertagen zu Yom Kippur bei uns zu Besuch. Tante und Onkel waren damals noch nicht verheiratet. Tante Irene führte uns in Folge direkt zu ihrem Bruder Nándor, der im Gebirge ein kleines Haus hatte.“
Dem kleinen Thomas prägten sich am Güterbahnhof innere Bilder ein: „Alois Brunner stand dort mit einem Bambusstab und haute ständig auf seine Stiefel“, ruft er. „Brunner schubste meinen seligen Vater mit dem Knie in eine Baracke, hinter der die Waggons standen, um die Juden weiter zu deportieren.“ Währenddessen drückte ein geistesgegenwärtiger Mitarbeiter des Bahnhofs Onkel Árpád eine Sackkarre und Papiere in die Hand und half ihm so, zu entkommen: „Und er ging hinaus, als ob er ein Arbeiter des Bahnhofs wäre!“
Rettender Tischler in Sered
Am nächsten Tag klingelt es erneut, Thomas Frankl ruft an und möchte weitererzählen:
„Vater traf diesen Tischler in den 1970-er Jahren noch einmal, um sich zu bedanken. Meinen Lebensretter nannte er ihn. Mein Vater Adolf Frankl hätte von diesem Zwischenlager namens Sered aus weitertransportiert werden sollen. Doch in der Tischlerwerkstatt versteckte ihn ein gewisser Roland Schüssler in einem Spind. Schüssler war ein jüdischer Menschen-Freund aus Bratislava.“
Thomas Frankl liebt es, zu telefonieren und tut das ausgiebig jeden Tag, da kann er so richtig seine Gedanken erforschen und ausführen. Unter einer Stunde geht das selten. „Du hast gerufen?“, fragt ihn der Schriftsteller Peter Paul Wipplinger mit sonorer Stimme bei seinem Rückruf. Er scheint es gewöhnt zu sein, oftmals angerufen zu werden.
Die Slowakei war ein Satellitenstaat des Deutschen Reiches und das Arbeits- und Konzentrationslager Sered existierte von Oktober 1941 bis zum April 1945. Die aus der Slowakei deportierten Juden wurden in Sered „konzentriert“, um sie für die „Abschiebung“ in die Todeslager nach Polen vorzubereiten. Auch in diesem Zusammenhang war der Österreicher Alois Brunner ein wichtiger Nazi-Täter. „Leider konnte mein armer Vater vor lauter Angst und Nervosität das Wasser nicht halten und die jüdische Hilfspolizei bemerkte die nasse Spur aus dem Spind heraus.“ Dann weiss Thomas Frankl plötzlich nicht mehr weiter und stockt in der Erzählung. „Aber sie taten ihm nichts“, improvisiert er. Irgendwie ist sein Vater dann doch nach Auschwitz gekommen.
Thomas Frankl , mit freundlicher Genehmigung: Peter Paul Wipplinger.
Nach Sered wurden anfangs jüdische Handwerker geschickt, um das Militärlager zu renovieren. Es gab eine Schreinerei, eine Spielzeugfabrik, eine Schneiderei und weitere Werkstätten. Ab September 1944 stand Sered unter einer SS-Leitung, der Leiter hiess Franz Knollmayer, vorher war das Lager von den Hlinka-Garden (und der slowakischen Armee, ergänzt Frankl) bewacht worden. An die in der zweiten Deportations-Welle ermordeten 13.500 Juden erinnert heute das Sered Holocaust Museum, das Frankl schon zweimal besucht und dem er eine Originalzeichnung seines Vaters (siehe Bild) geschenkt hat. „Vater wollte seinem Lebensretter, dem Tischler, in den 1970-er Jahren spasshalber tausend Schilling in die Hand drücken, wie man auf einem Foto sieht“, lacht Thomas Frankl. Es klingt, als habe Roland Schüssler diese finanzielle Anerkennung von sich gewiesen.
Schillinge aus dem Versatzamt
„Ich denke, ich bin nicht normal, aber ich bin darüber nicht traurig“, resümiert Thomas Frankl, in einem riesigen Lehnstuhl sitzend. „Ich verstehe mich manchmal selber nicht.“ Mit seinen langen, nach hinten gestrichenen Haaren und dem hageren Gesicht sieht er wie ein Künstler aus. „Ich bin immerhin schon zweimal 44!“, lacht er. Dann beginnt er vom Café Museum zu erzählen, von der Briefmarkenmesse jeden Sonntag, an der Simon Wiesenthal teilnahm, der in der Nähe des Türkenschanzparks wohnte. Wiesenthal war mit dem Vater von Thomas bekannt, dem Auschwitz-Überlebenden Adolf Frankl.
Später würde es noch einmal um Wiesenthal gehen, doch zuerst dreht Thomas Frankl noch eine spiralförmige Gesprächsrunde:
„Meine Ururgrosseltern flüchteten aus Toledo in Spanien – vor der Inquisition. Bei der Inquisition wurden viele Menschen verbrannt. Meine Ururgrosseltern flohen über Mallorca nach Istanbul, damals herrschte der Sultan Beyazit II., dem wir sehr dankbar sind, dass er Juden dort leben liess. Deswegen besass meine Mutter irgendwie einen türkischen Geburtsschein.“
Plötzlich fällt Thomas Frankl etwas ein, er verfolgt sofort seinen Gedanken und ruft mitten in seiner Erzählung eine ehemalige Politikerin2 an, die am Telefon schwer atmet und wenig redet. Sie ist bald neunzig Jahre alt. Nach kurzer Zeit legt sie wieder auf. Dann erklärt Frankl, warum er sie angeläutet hat:
„Ihr Vater, der Doktor Rudolf Oertl, ein Schriftsteller aus Wiener Neustadt, verheiratet mit einer gewissen Elisabeth Ehrenfest, machte mit meinem Vater einen Vertrag. Vater wird alle Bilder, die er malt, den beiden gegen Bezahlung von wenigen hundert Schilling pro Bild abgeben.“
Und gleich folgt mit dem nächsten rhetorischen Umweg eine Erklärung:
„Als wir nach der Nazizeit nach Wien kamen, lebten wir zuerst im Rothschild Spital. Dann bei dem rumänischen Doktor Iwanowitsch zu zehnt in einer Wohnung. Im Haus des Cafe Hawelka in der Dorotheergasse. Wir hatten kein Geld. Vater hat im Cafe Hawelka gezeichnet, dabei viel geraucht und schwarzen Kaffee getrunken. Vater war übrigens mit Ödon von Horvath, den er auch zeichnete, in der Klasse. Ödon von Horvath war ein schlechter Schüler“, lacht er. „Vor lauter Not versetzte Vater sogar Kleidungsstücke, Zu den drei Kugeln hiess diese Pfandleihanstalt in der Kärntnerstrasse im Wien der 1950-er Jahre, in die er ging. Dort arbeiteten eben dieser Doktor Oertl und seine Frau. Sie sammelten die Bilder meines Vaters und kauften sie für ein paar Schillinge von ihm ab.“
Vaters Bilder ausstellen
In den 1970-er Jahren fasste sich Thomas Frankl ein Herz, borgte sich Geld von der Allgemeinen Wirtschaftsbank und kaufte die Bilder zurück. „Das war ein grosser Kampf“, betont er:
„Ich habe alles zurückgekauft, und natürlich haben wir mehr bezahlt. Vater war ziemlich scheu, er war sehr froh, wenn er hundert oder fünfhundert Schilling bekommen hat - er war Künstler, kein Geschäftsmann. Retek hiess der Besitzer der Allgemeinen Wirtschafts Bank, der mir half - auf Deutsch Rettich. Als wir die Bilder wiederhatten, hatte ich die Idee, eine Ausstellung zu machen. Die erste Ausstellung war dann im Versatzamt in der Kärntnerstrasse, im ersten Stock. Am Anfang habe ich nämlich noch nicht mit den Besitzern von Vaters Bildern gestritten, erst, als sie einen relativ hohen Betrag verlangten. Später wollten wir sehr gerne im Künstlerhaus ausstellen, doch der Leiter des Künstlerhauses verlangte unglaubliche 400.000 Schilling als Miete!“
Thomas Frankl ging also zu dem alten Bekannten der Familie, Simon Wiesenthal. Wiesenthal rief damals direkt den Politiker Rudolf Scholten an, Scholten schliesslich Erhard Busek. Die Familie Frankl bekam sofort einen Termin und erhielt eine Zusage über einen Teilbetrag. Die Ausstellung im Künstlerhaus fand dann im Jahre 1975 statt. Im gleichen Jahr gab es noch Ausstellungen der Frankl-Bilder in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und im Konzentrationslager Dachau.
Auf einem Ausflug im Rollstuhl trägt er stolz den Hut seines „seligen Vaters“ auf dem Kopf, wird mehrfach auf der Strasse erkannt und freudig begrüsst. „Wenn ich über etwas spreche, dann sehe ich es vor mir“, sagt er. „Heute Nacht habe ich geträumt, dass mir der Zahn gezogen worden sei. Vorher hatte ich Augenschmerzen.“ In der nächsten Nacht träumt er, dass er aus dem Zug aussteigen und seine Reise zu Fuss fortsetzen muss. Das Telefon läutet, heute zum fünften Mal. „Ich geniere mich nicht anzurufen“, heisst es auf dem Anrufbeantworter. „Es ist seltsam, ich kann nicht weinen. Shalom, Tommy.“
Frankl Adolf Selbstbildnis, mit freundlicher Genehmigung: Peter Paul Wipplinger.
Anmerkungen
1 Der Papst schenkte ihm bei der Feier der Ursulinen vor kurzem einen Rosenkranz.
2 Marilies Flemming.